Art in Resistance SPIELART 2015

Brecht weiterdenken ODER Agitprop heute Proletenpassion 2015ff von Werk X aus Wien zu Gast bei Spielart

Bild: Philipp Bovermann

Bild: Philipp Bovermann

Wie funktioniert Geschichtsschreibung?, fragen sich die Akteure der Proletenpassion zu Beginn des Abends in der Muffathalle. Von oben, es gehe um Kronen und Herrschaft und im Folgenden versucht das schlagkräftige, impulsiv-kämpferische Werk eine Geschichtsschreibung aus Sicht der Arbeiterklasse mit marxistischem Impetus. Von Heinz R. Unger vor über 40 Jahren geschrieben und von der Band Schmetterlinge 1976 uraufgeführt, ist die Passion 2015 in neuer Regie von Christine Eder zu sehen, die dabei implizit die Frage nach der Möglichkeit eines proletarischen Theaters in der heutigen Zeit stellt.

Das Bühnenbild ist Programm an diesem Abend: Beschriftete, aneinandergenähte und im Halbkreis aufgehängte Stoffbanner als Kulisse, mit den Schlagworten, wie z.B. „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, „Frieden, Land, Brot“, „Euer Reichtum ist unsere Armut“, „Fuck the State“ und ikonischen Symbolen der Arbeiterbewegung wie Hammer und Sichel versehen, bilden das Setting. Davor regiert ein Chaos aus gestapelten Papierpaketen, Instrumenten und zerschlissenen 70er Jahre Sofas. Mit unfassbarem Elan und Agilität hüpfen die Musiker und Darsteller in den folgenden zweieinhalb Stunden zwischen den Bergen herum, aus denen sie immer wieder Requisiten wie Mistgabeln, überdimensionale rote Fahnen, Pamphlete und Kartonbeffchen ziehen. Rollenverteilung gibt es keine, die Akteure spalten sich in zwei Lager: Eher Musiker und eher Sprecher, wobei die Übergänge ineinanderfließen. Unterhaltung und Belehrung wechseln sich ab, Erzähl- und Erklärgestus der Sprecher verwandelt sich in kurze brechtsche Spielszenen derselben. Sie beginnen mit den Bauernkriegen um Thomas Müntzer und Martin Luther, über Marianne im Jahr 1789, den Sturm auf die Bastille, den Aufstieg der Bourgeoisie, die Commune in Paris, Russland unter Zar Nikolas II., das Rote Wien, den Reichstagsbrand bis hin zu den Neoliberalisten der westlichen Welt von heute. Eine rasante, politisch inkorrekte Geschichtsstunde: Die Guten sind die Angehörigen der Arbeiterklasse, die Bösen immer die Machthaber, die sich fortwährend ändern: Adel und Klerus, Bourgeoisie und Nazis, Neoliberalisten und der ominöse Markt, der personifiziert durch einen Darsteller selbst in Erscheinung tritt, um sich zu rechtfertigen.

Wo genau hierbei die Grenzen zwischen Satire, ernstgemeinter Utopie und Agitation liegen, ist oft nicht klar erkennbar. Andererseits ist der Impetus des Projekts ganz deutlich zu sehen: Proletenpassion ist ein für und aus der Sicht der Arbeiterklasse konzipiertes nummerndramaturgisches Wut-Musical, das sich nicht scheut, inbrünstig linksradikal zu sein. Opfer hiervon ist natürlich eine differenzierte Sicht auf die Geschichte, auf Karl Marx und linkspolitische Gewalt, wobei es im Umkehrschluss genau dieses Immer-Differenzieren-Wollen und das Ja- keinem-auf-den-Fuß-treten ist, was das Werk X anprangert und gegen das es schmettert – allen wunden Punkten zum Trotz.

Trotz und Jetzt-erst-Recht-Habitus spucken dem Zuschauer auch aus den lauten und abwechslungsreichen Liedern entgegen, die die Wiener Szenegröße Gustav arrangiert und komponiert hat. Neben der Energie und dem Zorn der Darsteller sind es hauptsächlich diese Lieder, die eine Agitationsstimmung im ganzen Saal verbreiten, die Lust auf Revolution und politisch inkorrektes Herumproleten machen. „Der Kapitalismus forderte mehr Tote als Hitler und Stalin zusammen!“, wird ins Mikrofon gebrüllt, die Regeln der Commune verteilt: „Artikel 1: Auflösung des Heeres, Einführung der Volksbewaffnung.“ Der Abend endet mehr oder weniger mit der Erstürmung des Publikums durch die Sängerin und Komponistin Gustav, die durchaus pathetisch

„mehr Demokratie“ fordert und dem Aufruf ans Publikum, Widerstand gegen den sogenannten „Markt“ zu üben, der als seine Geschütze nicht mehr Kanonen auffährt, sondern Spekulation und weltweiten Hunger. Nicht Berieselung und das, was Brecht „kulinarisches“ Theater nennt, sind die Quintessenzen des Abends, sondern Anstacheln zum Kampf in einer lasch gewordenen Gesellschaft.

Werk X zeigt die Niederlagen der Arbeiterklasse aus Sicht der Kommunisten in den großen Stationen der Geschichte (dass sie sich hierbei wieder der herkömmlichen Geschichtsschreibung unterwerfen, wird außer Acht gelassen). Allerdings ist der Arbeiter nicht der schwächliche Lumpenproletarier, sondern er ersteht aus jeder Niederlage mit größerem Zorn. Fulminante Action auf der Bühne, kein verkopftes Regietheater, das Theater für Arbeiter machen und provozieren will, dabei aber um sich selbst kreist und langweilt. Proletenpassion ist Revue, Musical verknüpft mit Klassenkampf. Implizit ist es Kritik am gegenwärtigen Theaterbetrieb, der für eine kleine Masse produziert, sich allerdings um jeden Preis politische Bedeutung beimessen möchte.
Wie kann man das Brechtsche Belehren und Unterhalten, die von Piscator angedachten politische Bildung im Theater weiterdenken? Ist der Massenmagnet Musical nicht die vortreffliche Lösung? Werk X probieren es aus und landen einen Volltreffer durch bewusste Vereinfachung, durch klare politische, fast parteipolitische Stellungnahme: So kann Agitprop heute gehen.

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