SPIELART 2017

MDLSX: postdokumentarisches Theater als „Art of the Outside“

Silvia Calderoni in MDLSX.

Seit 2005 arbeitet Silvia Calderoni mit dem Künstler*innen-Kollektiv Motus zusammen, das 1991 in Rimini gegründet wurde und bei SPIELART 2015 mit CALIBAN CANNIBAL zu Gast war. Nun steht sie für MDLSX alleine auf der Bühne. Zwischen Club und Traumwelt, in Neonfarben leuchtend möchte MDLSX eine Hymne auf die Freiheit sein. Wir haben mit der Dramaturgin Daniela Nicolò über Vorurteile und das neue Europa gesprochen.

Hi Daniela, wer und was ist Motus?

Motus ist das lateinische Wort für Transformation, körperliche Bewegung, aber auch die Bewegung der Gedanken. Und all diese Prozesse spielen bei künstlerischen Aktionen eine Rolle: Auf der einen Seite möchten wir unterschiedliche Ausdrucksformen für unsere Themen finden, aber auf der anderen Seite entspricht Bewegung auch der nomadischen Dimension, die unsere Projekte so an sich haben. Wir reisen mit ihnen durch die Welt. Jedes neue Projekt ist ein Weg, etwas Neues zu entdecken. Eine Reise. Jemand hat unser Theater mal als „Art of the Outside“ beschrieben, das trifft es eigentlich ganz gut.

Und wie verhält sich euer neues Projekt MDLSX zu dieser Idee?

Eigentlich ist MDLSX die perfekte Umsetzung dessen, was wir uns von Theater vorstellen: eine hybride Show, die oft auch die Kritiker verwirrt. Sie wissen einfach nicht, wie sie das, was sie gerade gesehen haben, einordnen sollen. Das gefällt uns! Wir wollten nie in irgendwelche Schubladen gesteckt werden. Der Entwicklungsprozess war auch bei diesem Projekt eine Diskussion, ein Dialog, ein gemeinsamer Raum, der sich nach außen öffnet. Theater muss mit etablierten Strukturen brechen, verwirren, aber vor allen Fragen stellen.

Silvia Calderoni in MDLSX.

Um was geht es in MDLSX genau?

MDLSX ist sehr spannend und unterscheidet sich stark von unseren anderen Projekten. Wir arbeiten seit zehn Jahren zusammen und haben uns zum ersten Mal entschieden, die Performance ausschließlich auf Silvia Calderonis Körper aufzubauen. Sie ist unser dritter Referenzpunkt, mit dem wir einen privilegierten Dialog führen. Nur vier Leute waren in den Prozess verwickelt: Daniela Nicolò, Enrico Casagrande, Alessio Spirli und Silvia. Im Prinzip verkörpert Silvia, wie sie es bereits bei Antigone und Shakespeares Ariel gemacht hat, eine zweideutige Figur, deren Sexualität nicht eindeutig ist.

Warum habt ihr euch für dieses Thema interessiert?

Wir haben uns sehr von Silvias persönlichen Leben inspirieren lassen. Silvia stammt aus einem kleinen Dorf in der Emilia Romagna. Sie lässt sich und ihre Sexualität in keine Kategorien stecken und hatte es im konservativen Italien natürlich immer schwer; sie wurde immer als das Andere gesehen, die nicht so ist wieder Rest. Von diesen geografischen Grenzen wollten wir uns allerdings lösen und den Konflikt ins Innere, Unsichtbare verlagern. Wir haben uns dann viel mit Gender-Theorien und (trans)feministischen Philosophen beschäftigt, um ein Gefühl für das Thema zu bekommen und das nötige Hintergrundwissen zu haben.

Der Titel MDLSX ist doch auch eine Anspielung auf den Roman von Jeffrey Eugenides, „Middlesex“, oder?

Wir wollten durch Silvias Biografie eine intime, persönliche, aber zugleich universelle Geschichte erzählen. Das Buch war dafür ein guter Ausgangspunkts. MIDDLESEX thematisiert viele Aspekte, die auch in Silvias Leben eine Rolle spielen. Ich habe den letzten Teil des Romans umgeschrieben, um den Fragen nachzugehen: Wie sieht diese komplexe Reise aus, auf der Suche zu sich selbst? Funktioniert das nicht am besten, wenn man die Figur tatsächlich reisen lässt?

Silvia Calderoni in MDLSX.

Wie seid ihr damit bei den Proben umgegangen? Wie hat sich das Stück entwickelt?

Wir haben Silvia gebeten, einfach zu improvisieren. So haben wir den Text bei jeder Probe ein wenig abgeändert. Je nachdem wie sie damit umgegangen ist und darauf reagiert hat. Alles ist gemeinsam entstanden und dafür mussten wir uns gegenseitig vertrauen.

Wie viel von Silvia steckt in der Figur von Calliope, der Hauptfigur in MDLSX?

Wir nennen MDLSX gerne eine post-biografische Arbeit, post-dokumentarisches Theater: Die Grenzen zwischen Silvias und Calliopes Biografie sind vage und verschwommen. MDLSX ist keine dokumentarische Darstellung von Silvias Leben, keine Autobiografie. Am Ende bleibt es dem Publikum überlassen, das entscheiden muss, was Realität und was Fiktion ist. Sie können alles glauben, hinterfragen, verändern. Aber niemand muss Eugenides, Viginia Woolf oder Pasolini kennen, um zu verstehen, was auf der Bühne passiert.

Silvia Calderoni in MDLSX.

Und da geht es vor allem auch darum bestimmte Kategorien, wenn es um Sexualität, Gender, Körper, Hautfarbe geht, aufzuweichen und zu dekonstruieren…

Wenn wir solche Kategorien aufbrechen wollen, müssen wir das Denken der Menschen ändern – wenn man sich zum Beispiel die tragischen Vorfälle in Charlottesville anschaut. Da geht es immer wieder um Hass, um den Glauben, Menschen von unterschiedlicher Hautfarbe und sexueller Orientierung voneinander fernhalten zu müssen. Wir wollen diese Vorstellungen und Ideen auseinandernehmen und neue, post-nationalistische Identitäten entwickeln. Die feministische Theoretikerin Rosi Braidotti schlägt da zum Beispiel fließende und nomadische Identitäten vor, die in einem neuen Europa zusammenleben, in dem intellektueller und sozialer Austausch stattfindet, der eine gesellschaftspolitische Agenda verfolgt und auf Konfrontation aus ist.

Denkt ihr, dass unsere Gesellschaft dafür bereit ist und sich langsam von den traditionellen Kategorien verabschieden kann?

Das ist keine leichte Frage. Wir haben uns in unseren Arbeiten immer davor versperrt, kategorisiert zu werden. Auch MDLSX ist nicht leicht greifbar und einzuordnen. Wir haben MDLSX in sehr unterschiedlichen Kontexten aufgeführt: bei Tanz-Festivals, in staatlichen Theatern, in eher politischen Kontexten bei Queer-Veranstaltungen. Wir können schlecht sagen, ob unsere Gesellschaft dazu bereit ist, Aber wir sind stolz, dass wir zu den Künstlern gehören, die diese politischen Debatten auf der Bühne hinterfragen.

 

MDLSX // PERFORMANCE // 8.11. 20.30 UHR + 9.11. 21 UHR // CARL-ORFF-SAAL (GASTEIG)

 

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