SPIELART 2015

Stimme des Volkes, Stimmen der Toten

 

Akira Takayama zählte zu den ersten Theatermachern in Japan, die sich mit den Gründen und den Folgen der Kernschmelze in Fukushima auseinandersetzten. Im Gespräch mit Christoph Gurk und Matthias Pees erklärt der Dokumentarist die Entstehung seines REFERENDUM PROJECT

CG Wo warst Du am 11. März 2011?

Zu Hause, in meiner Wohnung. Das Erdbeben ereignete sich am Nachmittag, um 14.46 Uhr. Ich habe noch geschlafen, denn ich war die ganze Nacht über wach gewesen. Kurz bevor das Beben begann, hat mein iPhone geklingelt, das Notfallsignal, das Erdbeben ankündigt. Ich habe das zur Kenntnis genommen, konnte aber die Situation nicht erfassen. Meine Tochter, die damals zwei Jahre alt war, begann in Panik hin- und herzulaufen, mit einer kleinen DVD-Tasche in der Hand. Die war aus der Videothek, wo wir für sie manchmal Animes ausgeliehen haben. Ich glaube, es war Instinkt, dass sie sich in diesem Moment die Tasche schnappte und damit umherrannte. Das Beben dauerte vier oder fünf Minuten. Es hörte einfach nicht auf. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Der Boden war kein Boden mehr. Es fühlte sich an wie auf einem Schiff. Danach gab es viele sehr starke Nachbeben, und bei jedem von ihnen ertönte dasselbe Notfallsignal vom Handy oder aus dem Fernseher. Dieses Geräusch hat sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt. Jedes Mal, wenn es kam, nahm meine Tochter ihre Tasche und rannte los. Ich schaltete den Fernseher ein. 20 oder 30 Minuten nach dem Beben traf der Tsunami die Küste im Nordosten. Das alles passierte hier und jetzt. Aber ich fühlte mich sehr fern von dem, was ich auf dem Bildschirm sehen konnte, ich sah den Tsunami kommen, und ich sah auch, dass da noch Autos fuhren. Es war wie ein bizarrer Film.

CG Ein hyperreales Ereignis. Sehr verstörend sind am 11. März 2011 entstandene Videoaufnahmen, in denen Leute an den Strand gehen und Fotos von den herannahenden Meereswogen machen. Als ob sie nicht selbst Teil der Gefahrenzone wären. Manche merkten viel zu spät, dass sie fliehen müssten. Wahrscheinlich ist das typisch für traumatische Ereignisse. Man möchte nicht, dass es wahr und man Teil davon ist. Deswegen spaltet man die Gefahr von der Wahrnehmung der Realität ab. Im Moment eines Schocks kann man dem Ereignis noch keine Bedeutung geben.

Die Katastrophe hat die Realität zerstört. In der Zeit danach wurden alle Verabredungen und Verpflichtungen abgesagt. So war ich zu Hause und habe die ganze Zeit ferngesehen, Radio gehört und die Nachrichten im Internet gecheckt. Das war das Einzige, was ich tun konnte, wieder und wieder, wie unter einem Zwang. Das alles war so weit weg von mir. Als ich die Explosionen im Atomkraftwerk gesehen habe, spürte ich allerdings schon eine Art von Realität. Oder besser, das „Phantom“ einer Wirklichkeit. Die Radioaktivität war da. Nur konnten wir sie nicht sehen. Aber wir haben gespürt, dass sie da ist. Das fühlte sich wie das Ende der Welt an.

CG Es hat so unglaublich lange gedauert, bis die Betreiber der Reaktoranlage in Fukushima öffentlich zugaben, was geschehen war. Die Kernschmelze wurde sehr lange nicht bestätigt.

Die hatte schon ganz am Anfang stattgefunden. Nur wussten wir es nicht.

MP Der stärkste Eindruck für mich war, dass der deutsche Fernsehkorrespondent nach Kyoto umzog und Kommentare über eine mögliche Evakuierung der Bevölkerung von Tokio machte – für den Fall, dass die Radioaktivität mit der Wetterlage dorthin vordringt. Er kam zu der Erkenntnis, dass die Stadt nicht evakuiert werden kann. 

CG Du warst, zusammen mit Toshiki Okada, einer der Theatermacher, die schon sehr früh angefangen haben, sich mit den Folgen des 11. März auseinanderzusetzen. Ich habe von vielen Japanern gehört, dass sie eine Zeit brauchten, um eine Distanz zum Geschehen herzustellen und sich selbst artikulieren zu können. Du hast Dich damals bereits in einem laufenden Arbeitsprozess für COMPARTMENT CITY VIENNA befunden. Für Dich muss es anders gewesen sein. Wie hat sich Deine Perspektive auf Deine Arbeit nach dem 11. März 2011 verändert?

Einen Monat nach dem Beben habe ich erstmals wieder meine Wohnung verlassen. Auf dem Heimweg, gegen Mitternacht, ging ich durch einen nahegelegenen Park – das war gerade zur Zeit der Kirschblüte, im April. Obwohl die Früchte in voller Blüte standen, war kein Mensch dort. Es gibt eine Novelle des japanischen Autors Motojiro Kajii: UNTER BLÜHENDEN KIRSCHBÄUMEN LIEGEN LEICHEN BEGRABEN. Sie erschien mir dort im Park plötzlich extrem real. Die wunderschönen Blüten – und unter der Erde liegen die Toten. Ich dachte, dass ich ihren Stimmen, den Stimmen der Toten, mit den Mitteln des Theaters lauschen müsste. Zwei oder drei Tage später waren Gouverneurswahlen in Tokio. Shintaro Ishihara, amtierender Kandidat und Befürworter der Kernenergie, gewann mit einem Stimmenanteil von 70 Prozent. Ich hatte erwartet, dass er gehen muss. Meine Freunde und die Leute, die ich kenne, sind ganz und gar gegen Ishihara. Aber die Mehrheit in Tokio liebt ihn. Von daher war ich wirklich verunsichert in Hinblick auf die Frage, was „unsere Stimmen“ eigentlich sind. Wie können wir den Willen der Menschen wirklich herausfinden? Im Mai war ich dann in Wien, um COMPARTMENT CITY VIENNA zu realisieren. Während unseres Aufenthaltes haben wir das Kernkraftwerk Zwentendorf in der Nähe von Wien besucht. Die Geschichte der Reaktoranlage, deren Inbetriebnahme durch eine nationale Volksabstimmung verhindert wurde, brachte mich auf den Gedanken, dass ich in der Form eines Referendums ein „Instrument“ finden könnte, um die Stimmen hörbar zu machen. In Japan wurde noch nie eine nationale Volksabstimmung durchgeführt. Als ich zurück war, fand die Pressekonferenz  des Festival/Tokyo statt, auf der ich mein Vorhaben präsentierte. NHK, Japans staatlicher Fernsehsender, hatte ein Interview bei mir angefragt. Aber als ich mein künstlerisches Vorhaben vorgestellt hatte, ist die Crew einfach gegangen, ohne Interview. Mein Projekt rüttelte ganz offenkundig an einem Tabu.

CG War das die Frage nach einem Referendum?

Eher die Frage nach der Atomenergie. Es kam der unvermeidliche Anruf der Stadtverwaltung von Tokio. Ich wurde beim Direktor der Kulturabteilung vorgeladen, um mein Vorhaben zu erläutern. Während des Arbeitsprozesses habe ich mehr und mehr gemerkt, dass es in Japan nicht sinnvoll ist und wirkungslos bleibt, wenn man eine unmittelbar politische Aktion durchführt. Das hat schlichtweg zur Folge, dass man ignoriert wird. Ich habe sehr intensiv über die Frage nachgedacht, wie ich Theater als politisches Instrument nutzen kann. Ich wusste, auf direktem Wege würde ich hundertprozentig verlieren.

CG Hast Du Dich mehr auf die Sphäre der Fiktion begeben, um die Wirklichkeit – oder was man dafür hält – zu adressieren? Um sagen zu können, was du unter normalen Umständen nicht aussprechen kannst?

Stark beeinflusst hat mich ein Essay von Hans-Thies Lehmann, ERSCHÜTTERTE ORDNUNG – DAS MODELL ANTIGONE. Ein Satz ist mir besonders haften geblieben: „Der Rahmen des Politischen ist die Zeit“. Politik kann die Menschen kontrollieren, die jetzt leben. Jedoch nicht die Toten und diejenigen, die noch geboren werden. Wenn ich versuche, unmittelbar politisch zu sein, komme ich dieser Form der Wirklichkeit zu nahe. Was Theater vermag, ist eine Plattform, ein Feld zu eröffnen, in das die Politik nicht eindringt. Daher habe ich mich entschieden, für das REFERENDUM PROJEKT nur Interviews mit Kindern zu machen – mit Menschen, die ihre Rechte noch nicht artikulieren und wahrnehmen können.

CG An welchen Orten hast Du diese Gespräche geführt?

In vier Städten der Präfekturen Fukushima und Tokio. Es gab 26 Fragen, die aber alle nicht direkt auf politische Belange bezogen waren. Die erste war „Was möchtest Du im Moment am meisten?“ Und die letzte Frage: „Was ist Dein Traum?“. Bei der Auswertung habe ich gespürt, dass die Mittelschüler unsere Realität kopieren. Sie antworten nicht mit dem, was sie eigentlich ausdrücken wollten, sondern mit dem, was sie glaubten, sagen zu müssen. In dieser Aussageform wurde so etwas wie der Geist der Zeit nach dem 11. März sichtbar. Im März 2014 haben wir weitere Interviews gemacht, diesmal in Hiroshima und Nagasaki, beides Städte, die von der Atombombe getroffen wurden. Die Kinder dort wissen genau, welche Antworten von ihnen erwartet werden. Man kann sofort erkennen, dass ein bestimmtes Interview aus Hiroshima oder Nagasaki stammt.

CG Wie alt waren die Kinder?

12, 13 und 14 Jahre.

CG Nicht ihre Eltern, sondern ihre Großeltern haben die Erfahrung eines Atombombenabwurfs gemacht.

Genau. In Hiroshima und Nagasaki gibt es ein übermächtiges System der Erziehung. In jeder Klasse wird ein Spezialunterricht zu den Themen Atomenergie und Atombombe erteilt. Aus diesem Grund haben die Schüler für sich schon eine Antwort in Bezug auf den Nuklearunfall in Fukushima.

MP Die ersten Interviews aus Fukushima und Tokio waren sehr schockierend, auch für uns alle, die wir von außen auf die Ereignisse in der Region schauen. Warum sind diese Kinder, die so nah an der Katastrophe leben, so wenig aufgeklärt über die Situation? Auf die Frage „Was würdest Du tun, wenn Du Premierminister wärst?“ antworten sie mit Standardphrasen aus dem Fernsehen: „Ich würde ein Lächeln auf das Gesicht der Menschen zaubern.“

CG Woher genau kommt der Einfluss, unter dem sie das sagen?

Genau das möchte ich herausfinden. Ich sehe mir die Interviews regelmäßig an. Es sind inzwischen mehr als 1000. Manchmal macht mich das depressiv. Besonders die Videos aus Fukushima. Denn die Jugendlichen sind so schrecklich „korrekt“. Überhaupt nicht kindisch. Ich möchte wirklich wissen, wie die Welt der Politik der Erwachsenen es schafft, diese Kinder zu erobern.

MP Du hast Deinen Ansatz vorhin eher im Sinne der Vermeidung des unmittelbar Politischen beschrieben. Ich glaube, Dein Projekt hatte nicht von Beginn an diesen defensiven Charakter. War das nicht auch ein längerer Prozess, der Dich über die unmittelbar politischen Themen hinaus zu der Frage geführt hat, welche Funktion eigentlich die Kunst in unserer Gesellschaft hat?

Zu dieser Zeit war ich mir nicht sicher. Ich habe gemerkt, dass viele Leute diese Arbeit für sehr schwach hielten. Der Titel REFERENDUM PROJECT ist eine markante Setzung, die Assoziationen wie Aktivismus oder auch eine kritische Haltung gegenüber Atomkraftwerken aufruft. Es sind viele Leute aus dem politischen Spektrum im engeren Sinne gekommen, um das Projekt zu sehen. Sie waren enttäuscht. Interviews mit Kindern, so eine Lappalie. Aber ich wusste, wenn wir dieses Projekt über eine lange Zeit weiterverfolgen – zwei, drei oder vielleicht auch zehn Jahre – würde die Quantität die Qualität verändern. Deshalb habe ich nicht aufgegeben. Die Fahrt mit unserem Lastwagen nach Nagasaki hat 20 Stunden gedauert. So lange bin ich noch nie gereist. Das REFERENDUM PROJEKT erfordert eine andere Art der Wahrnehmung von Zeit und Ressourcen. Wir haben bisher drei Jahre daran gearbeitet. Im Lastwagen gibt es nur 8 Sitzplätze. Das ist sehr langsam und nicht effektiv. Aber nach dem 11. März hat sich die Zeitwahrnehmung in Japan stark verändert.

CG Kannst Du das beschreiben? Wo liegen die Unterschiede zwischen heute, drei Jahre nach der Katastrophe, und der Zeit direkt nach dem 11. März?

Kennst Du Linear Motor Cars? Das sind momentan die schnellsten Züge überhaupt, noch viel schneller als der Shinkansen. Es war geplant, in Japan eine Strecke dafür zu bauen, aber das Vorhaben wurde bereits vor dem Erdbeben aufgegeben. Nach dem 11. März wurde das Projekt neu aufgerollt. Diese Art von Geschwindigkeit wird jetzt in Japan gebraucht, noch mehr als bisher. Die Olympischen Spiele werden wieder in Tokio stattfinden. Die Zeit der Olympischen Spiele 1964 war für die Metropole die Ära des großen Booms. Jedes Jahr wurden neue Gebäude gebaut, Autobahnen und der Shinkansen eingeweiht. Genau das wollen die Politiker und auch die Medien jetzt zitieren. Ich denke, wir brauchen eine Art von Verlangsamung, von „Slow Journalism“. Im Moment haben die Leute das Gefühl, dass sie rennen müssen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Aber das REFERENDUM PROJEKT ist sehr zeitaufwändig, uneffektiv – und vielleicht nicht einmal politisch. Wir brauchen eine solche Unterbrechung.

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