SPIELART 2021

Amanda Piña. Versuch einer dichten Beschreibung

Die Kulturwissenschaftlerin Dr. Simone Egger hat uns ein Essay über den Ansatz der Choreografin Amanda Piña geschickt, die mit DANZA Y FRONTERA dieses Jahr das Festival eröffnet. Über kulturelles Gedächtnis und den Umgang mit dem Anderen im Tanz.

DANCE AND RESISTANCE

Der Raum ist in Rotlicht getaucht. Die Zuschauer*innen bilden einen Ring um den Bühnenraum. „Tänze der Vergangenheit werden in einem ‚Download‘-Verfahren von vier Tänzerinnen in ein Hier und Jetzt geholt“,1 heißt es in der Ankündigung des Wiener Tanzquartiers vom März 2016. „‚Living traditions‘ stellen sie dar, die sich aufbäumen gegen einen Exotizismus, der ein ‚Anderes‘, eine westliche Position von etwas Ersehntem oder auch Gefürchtetem ist. Als hätten sie immer getanzt, ohne archivarische Ruhephase, treten die Tänze auf und erschließen uns Gegenentwürfe wie auch Möglichkeitsvarianten für ein Zusammensein.“2 Entlang des Kreises bewegen sich weitere Performer*innen, Musiker*innen kommentieren das Geschehen live mit Sounds und Klängen. Aus endlosen Wiederholungen ergibt sich im Laufe des Abends ein Bild aus bewegten Fragmenten und verdichtet sich zu einem Ritual, das alle im Raum miteinbezieht. Die Performance steigert sich und geht schließlich in ein Rauschen über, das leiblich zu spüren ist. Ästhetisch wahrnehmbar wird die Intensität von Amanda Piñas Arbeit DANCE AND RESISTANCE // „Tanz und Widerständigkeit“, Vol. 2 der Reihe ENDANGERED HUMAN MOVEMENTS // „Bedrohte menschliche Bewegungen“, mit der sie untersucht, welches Wissen in der Welt bestehen bleibt, in Vergessenheit geraten ist – und wieder aktiviert werden kann. Den Ungehörten verleiht sie eine Stimme, den Stimmlosen verschafft sie mit ihrer Sprache über das Verschwinden aus lokalen Kontexten hinaus international Gehör.

Kunst // Ethnografie

Amanda Piña bezeichnet sich selbst als Tänzerin, Choreografin und Kulturarbeiterin. Die chilenisch-mexikanische Künstlerin lebt in Wien und in Mexiko City. Nach dem Studium der Malerei hat sie begonnen, sich besonders mit dem Körper, mit Bewegung und Tanz auseinanderzusetzen. Ausgehend von den Bereichen Diskurs, Performance, Film und Text/Publikation entstehen transdisziplinäre Formate. In verschiedenen Projektserien lotet sie aus, wie mit ästhetischen, oft marginalisierten Wissensbeständen in Vergangenheit und Gegenwart umgegangen werden kann. Amanda Piñas Arbeiten lassen sich an der Schnittstelle von Ethnografie und Kunst verorten und kreisen um Fragen von Wahrnehmung und Sichtbarkeit. Mit den Mitteln des Tanzes spürt sie post/kolonialen Verhältnissen ebenso nach wie der damit verbundenen Frage, was aus zeitgenössischer Perspektive als bewahrenswert gilt oder gar nicht mehr erinnert werden kann. Das Wissen der Welt ist kein geschlossener Kosmos, vielmehr entspricht es der Denkfigur eines unendlichen Raums. Entlang von Blickachsen wird vermessen, wer welche Position in diesem Gefüge einnehmen darf. Hierarchien spielen eine Rolle für die Erinnerungskultur. Permanent wird Wissen generiert, gleichzeitig gehen Bedeutungen verloren. Lokale Räume werden von nada productions – Amanda Piña in Kooperation mit dem Schweizer Künstler Daniel Zimmermann – zueinander in Bezug gesetzt, die Verknüpfung folgt strukturellen und/oder ästhetischen Kriterien. Vielschichtige politische Kontexte und ihre historische Prozesshaftigkeit stehen im Fokus – nicht nationale Zuschreibungen oder stehende Bilder und Klischees von Weltkunst.

Ethnografie // Kunst

„Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln’), das fremdartig, verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.“3 Was kann ein Mitglied einer Gruppe oder einer Gesellschaft über eine andere Gesellschaft oder Gemeinschaft aussagen, und welche Rolle spielt dabei der Blickwinkel, der bei der Betrachtung eingenommen wird? Der US-amerikanische Anthropologe Clifford Geertz betont, welche Herausforderung es darstellt, sich als Forscher*in in eine Gruppe von Menschen, eine andere Gesellschaft oder ein Gegenüber hineinzuversetzen und zu versuchen, kaum oder wenig vertraute kulturelle Phänomene zu verstehen. Wenngleich die meisten Dinge im Leben wie das Zubereiten von Speisen, die Liebe oder das Wohnen als anthropologische Konstanten ohnehin allen Menschen zu eigen sind, gilt das ethnografische Interesse gerade den besonderen, sich unterscheidenden Aspekten von Kultur und damit verknüpften sozialen Gefügen. Ausgehend von Situationen, an denen sich die Komplexität soziokultureller Spoezifika mit einem Mal erfassen lässt, spricht Geertz von der Möglichkeit einer dichten Beschreibung. Was prägt das kommunikative Gedächtnis einer Gemeinschaft? Was bleibt im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft haften? Was ist für die/den einzelnen von Bedeutung für die eigene Biografie? Amanda Piña arbeitet mit ästhetischem Wissen, das im Laufe der Zeit an Relevanz verloren hat, weil niemand mehr davon weiß. Auch wenn Aufzeichnungen angefertigt worden sind, ist oft nicht mehr bekannt, welche Praxis damit tatsächlich verbunden war. Gleichzeitig muss hinterfragt werden, warum ein solches Wissen verschwunden ist. In ihren künstlerischen Übersetzungen macht Amanda Piña ästhetische Spuren aus der Geschichte der Globalisierung für Betrachter*innen mit unterschiedlichem Vorwissen leiblich erfahrbar.

DANZA Y FRONTERA

Als Ethnograf*in ins Feld zu gehen und anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, setzt voraus, dass man sich einlassen kann. Amanda Piña nähert sich ihren Fragen an die Welt als Forscherin und macht Phänomene und Figurationen aus, die verschiedene Zugänge zu Gesellschaft, Politik, Kunst und/oder Religion nachvollziehen lassen. Eine kulturwissenschaftliche Übersetzung kann den Blick wie die künstlerische Übersetzung auf das Wesentliche lenken. Die Choreografin zelebriert Tänze und abstrahiert rituelle Handlungen auf der Grundlage ihrer ethnografischen Recherchen und mit dem Wissen um die Komplexität der Gesamtkontexte. Nicht weiße, bürgerliche Vorstellungen von Ethnokultur werden reproduziert, vielmehr wird Wissen jenseits einer eurozentristischen Perspektive sinnlich wahrnehmbar. Topoi wie Folklore oder Volkskultur spielen auch oder gerade in einer globalisierten und zunehmend urbaneren, von westlichen Bildern dominierten Welt eine Rolle. Das Andere, wo auch immer es zu verorten ist, wird zum Spiegel der eigenen Lebenswelt, auf einer ästhetischen Ebene ist die Begegnung unmittelbar. Eine Übersetzung kultureller Konstellationen in Bewegungsabläufe liegt auch dem Projekt DANZA Y FRONTERA // „Tanz und Grenze“ zu Grunde, dem Eröffnungsstück von Spielart 2021. Wie Clifford Geertz versucht Amanda Piña eine Schlüsselsequenz im Sinne einer dichten Beschreibung zu extrahieren, um die wechselvollen Beziehungen zwischen den USA und Mexiko in ihrer historischen Dimension begreifbar zu machen. DANZA Y FRONTERA ist postkolonialer Diskurs in Bewegung. Mit dem Tanz als ästhetischem Medium lassen sich Grenzen der Wahrnehmung, Labels und Setzungen überschreiten. Macht bleibt als Kategorie bestehen, während sich das Wissen der Welt am Übergang von Körper und Leib sinnlich vermittelt.

Dr. Simone Egger

1 Flyer Tanzquartier Wien, nada productions, Arbeit „Dance and Resistance“ // „Tanz und Widerständigkeit“, Vol. 2 der Reihe „Endangered Human Movements“ // „Bedrohte menschliche Bewegungen“, Premiere 18. März 2016.

2 Flyer Tanzquartier Wien, nada productions, 18. März 2016.

3 Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main, S. 15.

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