SPIELART 2019

Interview mit Tania El Khoury

INTERVIEW: SILVIA BAUER

Vielen Dank für Deine Zeit, Tania, und herzlich willkommen in München. Du bist zum dritten Mal bei SPIELART zu Gast und hast in diesem Jahr zwei verschiedene Arbeiten im Programm, AS FAR AS MY FINGERTIPS TAKE ME, eine Performance für eine/n Zuschauer*in mit dem palästinensischen Künstler und Musiker Basel Zaraa und als Premiere CULTURAL EXCHANGE RATE, eine Arbeit, die u.a. Deine Familiengeschichte thematisiert. Deine künstlerisch-performative Praxis ist sehr vielfältig und global. Du bist aber auch Wissenschaftlerin und Kuratorin. Magst Du Dich zum Einstieg bitte selbst kurz vorstellen?

Ja, klar, gerne. Ich verstehe mich zuallererst als Live Artist und ich interessiere mich vor allem für solche künstlerischen Herangehensweisen, die Wissen produzieren und die Interaktion des Publikums als zentrales Element einsetzen. Das bedeutet, dass das Publikum weit mehr aktiv eingebunden wird, als nur über die inhaltliche Seite, sondern auch über die Form selbst.
Es stimmt, dass ich erst kürzlich die Gelegenheit hatte, ein Festival über Grenzen am Bard College in New York zu kuratieren. Aber mein hauptsächliches Arbeitsfeld ist nach wie vor das eines Live Artist.
Außerdem habe ich promoviert, ich publiziere und unterrichte. In meiner akademischen Forschung interessiere ich mich vor allem für die politischen Potentiale interaktiver Live Art.

CULTURAL EXCHANGE RATE © Judith Buss

Im diesjährigen Programm können wir zwei Deiner Arbeiten sehen, AS FAR AS MY FINGERTIPS TAKE ME und CULTURAL EXCHANGE RATE. Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Performances?

Die beiden sind als Stücke komplett unterschiedlich, aber hinsichtlich Form und Inhalt haben sie schon Gemeinsamkeiten. Inhaltlich behandeln beide, grob gesprochen, das Thema Grenzübertritt bzw. beide thematisieren Personen, die auf verschiedenste Weise Grenzen überschritten haben. Außerdem sind beides Geschichten, die sich direkt um uns herum ereignet haben, die familiäre Bezüge haben oder biographische. Und drittens haben die beiden Performances auch eine formale Ähnlichkeit was die Interaktion des Publikums anbelangt, wie sich die Zuschauer*innen konkret verorten und Teil der Szenerie werden. Ohne das Publikum wären die Stücke nur eine Installation. Erst das Publikum transformiert die Arbeit von einer Installation zu einer Live-Performance.

Vor zwei Jahren hast Du GARDEN SPEAKS gezeigt, das stark mit Sound und mit Haptik arbeitete. Dieses Mal berührt der Performer in AS FAR AS MY FINGERTIPS TAKE ME das Publikum wortwörtlich. Durch die multisensorische Erfahrung entsteht für mich ein Effekt von Immersion. Welche Bedeutung hat Immersion für Deine Arbeit als Live Artist?

Ich spreche lieber von interaktiv als von immersiv, weil für mich Immersion ein Ziel ist und keine Form. Man hofft immer, dass die Zuschauer*innen das Geschehen als immersiv empfinden, aber man kann nie sicher sein, dass sich dieser Eindruck tatsächlich vermittelt. Interaktivität hingegen ist ein Prozess und eine Form. Prozesshaft im Hinblick darauf, wie die Arbeit selbst gestaltet wird, welche Rolle Interaktivität dabei spielt, welche Communities oder Kollaborateur*innen miteinbezogen werden und natürlich auch im Hinblick auf das Ergebnis der Performance selbst, wie es auf Festivals präsentiert wird, wo die Rolle des Publikums eben keine passive ist, sondern die Interaktivität der Zuschauer*innen ganz zentrale Bedeutung erlangt für das Stück selbst. Ich finde diesen Prozess und diese Form sehr spannend, denn sie erlauben dem Publikum zu einer Offenheit zu finden, sich politisch, sozial und emotional zu öffnen und zum Stück zu verhalten. Die Zuschauer*innen sind also ein wesentliches Element der Performance und nicht nur (passive) Besucher*innen.

Du erwähntest Wissensvermittlung als ein wichtiges Anliegen Deiner Arbeiten. Die Interaktivität, von der wir eben gesprochen haben, wird dabei jedoch weniger von kognitiven oder rationalen Elementen gespeist, vielmehr fallen mir die emotionalen Aspekte Deiner Arbeiten auf und die Situationen oder Erinnerungen, in die ich mich als Zuschauerin begebe, nehme ich als intime Momente wahr. Als Zuschauerin baue ich eine tiefe Verbindung zu Deinen Arbeiten auf und fühle empathisch mit. Können Empathie und Intimität heute auch als politische Werkzeuge genutzt und verstanden werden?

Ich denke eher in Begrifflichkeiten der Intimität als der Empathie, denn auch hier sehe ich Empathie eher als Ergebnis der Arbeit und nicht als Prozess. Der Prozess liegt in der Betrachtung von Intimität und Verletzlichkeit als geteilter Erfahrung zwischen der Künstlerin, die ihre Erlebnisse teilt und öffentlich macht und den Performer*innen und dem Publikum. Diese Erfahrung der menschlichen Verwundbarkeit bringt Performer*innen und Publikum auf dieselbe horizontale Ebene, auf Augenhöhe sozusagen, wo sie einen Moment der Intimität miteinander teilen können. Verletzlichkeit macht uns menschlich und das Moment der Verletzlichkeit ist etwas, was alle Menschen miteinander teilen. Ob das beim Publikum Empathie hervorruft, hängt letztlich von jedem/r einzelnen Zuschauer*in ab.

Die Verletzlichkeit des menschlichen Subjekts wird gerade an Grenzen oft spürbar. Du hast Dich immer wieder mit Grenzen beschäftigt, ein Festival dazu am Bard College in New York kuratiert und auch bei AS FAR AS MY FINGERTIPS TAKE ME und CULTURAL EXCHANGE RATE spielen Grenzen eine wichtige Rolle. Welche Bedeutung haben Grenzen für Dich? Welche Haltung hast Du zum Thema Grenzen?

Ja, das Thema Grenzen beschäftigt mich. Welche Haltung ich dazu habe? Wir müssen sie alle öffnen und einreißen! Grenzen interessieren mich als Prozess, den autoritäre Institutionen bewusst einsetzen, um Leid zu schaffen und die Diskriminierung von Menschen durchzusetzen. Aber Grenzen sind auch der Ort, an dem wir unsere Identität performativ konstruieren, gezwungen werden, unsere Identität darzulegen und darauf reduziert werden. Wir müssen unsere Papiere vorzeigen, unser Hautton wird begutachtet etc. Dadurch wird der Ort der Grenze als Raum und als Prozess für mich interessant, um dort innezuhalten und diese Umstände zu diskutieren. Angesichts der weltweit zunehmenden Xenophobie und angesichts der zu erwartenden Zahlen von Klimaflüchtlingen in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten, denke ich, dass die Auseinandersetzung mit Grenzen in vielerlei Hinsicht, insbesondere als Performance und als Prozess, auch in den kommenden Jahre weiterhin sehr wichtig bleiben wird.

In CULTURAL EXCHANGE RATE, wie auch schon 2017 in GARDEN SPEAKS, spielen Erinnerungen und Oral History eine wichtige Rolle. Gleichzeitig beobachten wir, wie in Europa beispielsweise ein Mangel an historischer Erinnerung und das Fehlen von Oral Histories marginalisierter oder kolonialisierter Gruppen – sei es beim Brexit in Großbritannien oder bei der Diskussion um Restitution und das Humboldtforum in Deutschland – politische Auswirkungen hat. Kannst Du uns erläutern, welche Rolle Erinnerung und Oral History für Dich und Deine Arbeit spielen?

Bei CULTURAL EXCHANGE RATE, das hier in München Premiere feiert, ist es fast noch ein wenig zu früh für mich, um in wenigen Worten darüber sprechen zu können, was es genau bedeutet. Aber es geht um die Erinnerungen verschiedener Mitglieder meiner Familie aus verschiedenen Generationen. Ein Ausgangspunkt ist Bildmaterial von meiner verstorbenen Großmutter, das ich gesammelt habe. Es stimmt, dass ich mich intensiv mit Oral Histories beschäftigt habe. Ein wichtiger Aspekt für mich ist, dass Oral History und überhaupt die Geschichten einfacher, normaler Leute oft vergessen werden, wenn wir die großen welthistorischen Ereignisse diskutieren. Wie du weißt, gab es verschiedentlich Ansätze, Oral Histories aufzuzeichnen, aber oft sind die Ergebnisse dann in Bibliotheken oder akademischen Einrichtungen quasi verschwunden. Ich denke, Kunst ist ein interessantes, geeignetes Umfeld, um diese mündlichen Überlieferungen zu verbreiten und einem Publikum zugänglich zu machen, da sie ja die „Großen Erzählungen“ der Weltmächte, der starken Regime oder Diktaturen herausfordern und hinterfragen.
Oral Histories sind für mich jedenfalls immer ein wichtiger Ausgangspunkt. Wenn ich mit Stadtforscher*innen oder mit Historiker*innen zusammenarbeite, selbst wenn wir uns viel mit schriftlichen Dokumenten auseinandersetzen, in Archiven arbeiten oder mit Landkarten oder wenn wir einen multidisziplinären Ansatz verfolgen, ist Oral History immer eine wichtige Komponente für uns, also das Einbeziehen der Geschichte der einfachen Leute und die Berücksichtigung von Erinnerungen. Denn, wie Du sagst, Erinnerungen sind auch performativ, es geht darum, wie wir Erinnerungen uns selbst, aber auch den Leuten um uns herum, immer wieder (neu) erzählen. Erinnerungen stellen somit die Verbindung zwischen Geschichte und Performance sehr deutlich her.

Abschließend möchte ich noch eine Frage zu den aktuellen Ereignissen stellen: Du bist eine global arbeitende Künstlerin, du lebst in Beirut, warst früher in London zu Hause und kennst die unterschiedlichen Medienrealitäten in den verschiedenen Teilen der Welt. In Deinen Arbeiten beschäftigst Du Dich mit der geographischen Region Syrien und Libanon. Derzeit sehen wir die türkische Invasion in Nordsyrien ebenso wie die Revolution und Proteste in Libanon. Welchen Medien können wir folgen, um ein ausgewogenes, multiperspektivisches Bild der Ereignisse zu gewinnen?

Persönlich folge ich kaum den Mainstream-Medien, weil wir, nicht zuletzt seit den Arabischen Aufständen seit 2010, gesehen haben, dass die Medien, gleich ob in der arabischen Welt oder in Europa, politisch parteiisch berichten. Die BBC etwa hat sehr tendenziös berichtet, obwohl sie ja eigentlich zur Objektivität verpflichtet ist. Es gibt viele alternative Medienformate. Natürlich kann man sich auch immer über Social Media informieren und Aktivist*innen oder anderen kritischen Stimmen folgen, die vor Ort berichten. Ich persönlich folge unabhängigen, alternativen Medien, die oft von einfachen, kritischen Leuten vor Ort betrieben werden und deren Stimmen und Meinungen repräsentieren.

Und zu guter Letzt: Was wünschst Du Dir vom SPIELART-Publikum?

Wie von jedem Publikum, wünsche ich mir, dass die Menschen den Vorstellungen mit einer Offenheit begegnen. Damit meine ich nicht unkritisch, sondern offen für neue Erfahrungen, aufgeschlossen, ihre Körper in die Räume einzubringen und in die Interaktion mit den Arbeiten zu gehen. Offen, sich berühren zu lassen, sei es intellektuell oder körperlich oder emotional. Das ist doch das Schöne an den zeitgenössischen Kunstformen, dass interaktive Formen es dem Publikum erlauben, sich zu öffnen und neue Erfahrungen zu machen.

 

 

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