SPIELART 2013

Kramen in Chinas Gedächtnis

Zensur und Autonomiebestrebungen. Performance als neue Kraft im sozialistischen China der 90er. Ein mittlerweile boomender Kunstmarkt und eine lebendig werdende Tanz- und Performance-Szene im heutigen China. Doch wo sind die Grenzen der (Kunst-)Freiheit? Welche Rolle spielen Künstler im chinesischen System, wenn manches gar nicht oder nur vor geladenem Publikum gezeigt werden darf? Das Living Dance Studio ist die erste unabhängige Kompanie in China, die 1994 von der Choreografin Wen Hui und dem Filmemacher Wu Wenguang gegründet wurde. Einen Ort zum Proben und Aufführen haben sie mittlerweile, aber keine staatliche Förderung. Denn die Themen ihrer Doku-Performances sind heikel: Die Große Hungersnot und die Kulturrevolution.
Geschichtsbücher handeln die Ereignisse jener 50er und 60er Jahre unter Maos Regime auf zwei Seiten ab. Zugleich werden wieder die „Roten Klassiker“ gesammelt. Der kontroverse Inhalt, der an den Bildern dieser Geschichte klebt, ist klar und doch zu faszinierend.

Die Werkschau des Living Dance Studio aus Beijing legt den Finger tief in diese Wunde Chinas und gibt schockierende Einblicke – mit der fünfstündigen durational performance MEMORY, die Sonntagnachmittag beginnt und jederzeit zugänglich ist, und den beiden Tanzperformanceabenden MEMORY II: HUNGER und LISTENING TO THIRD GRANDMOTHER’S STORIES

Living Dance Studio - MEMORY Foto: Odette Scott

Living Dance Studio – MEMORY Foto: Odette Scott

Erinnerungsarbeit

Tag und Nacht machten sie Krach, zerstörten Buddha-Statuen und Denkmäler, verbrannten Bücher, verdammten Rauchen, Alkohol und Gesellschaftsspiele, die bürgerliche Kultur und jegliches kapitalistische Symbol. Ein Terror der Jugend – inszeniert von Mao Tse Tung als Kulturrevolution.

1949 wird die Volksrepublik China ausgerufen, das feudalistische China in ein sozialistisches umgewandelt. Doch Maos Macht beginnt zu schwinden und so löst er 1966/67  die Kulturevolution aus. Eine neue Generation von Kommunisten soll herangezogen und eine ideale Welt geschaffen werden. „Mit Chaos auf Erden erreicht man Ordnung im Land“, so Mao. Ein von Maos Linie organisierter Aufstand der Schüler und Studenten gegen ihre Lehrer ist der Beginn. Schulen und Universitäten werden geschlossen, die Intellektuellen aufs Land zum Arbeiten geschickt. Die Roten Garden formieren sich, junge Arbeiter kommen hinzu. Sie sehen sich als Retter der Menschheit – alte Ideen, Kultur, Gebräuche und Gewohnheiten sollten vernichtet werden.

Ihr Eid: Wir, die Roten Garden, treten für die Verteidigung der roten Staatsführung ein. Die Partei und der Vorsitzende Mao sind unsere Beschützer. Die Befreiung der gesamten Menschheit ist unsere unabweisliche Pflicht. Die Mao-Zedong-Ideen sind unsere obersten Anweisungen. Wir schwören, dass wir fest entschlossen sind, für den Schutz der Partei und des großen Führers Mao Zedong unsere letzten Tropfen Blut zu vergießen.

Bei MEMORY öffnet sich jede Stunde ein neues Kapitel dieser Geschichte. Basis dafür ist der bis heute in China nicht veröffentlichte Dokumentarfilm MEINE ZEIT BEI DER ROTEN GARDE von Wu Wenguang, in dem Funktionäre, Opfer und Anführer zu Wort kommen.

Living Dance Studio - MEMORY II:HUNGER

Living Dance Studio – MEMORY II:HUNGER

„Ich fuhr zurück in mein Heimatdorf und interviewte dort die alten Leute.“

21 Laien-Dokumentarfilmer, allesamt in den 80ern geboren, begaben sich für MEMORY II: HUNGER in ihre Heimatdörfer auf der Suche nach Zeitzeugen der Großen Hungersnot 1959/61, deren Auslöser die Industrialisierungsprogramme der Regierung waren. Das Ziel: Ein „großer Sprung nach vorne“, denn die USA sollte überholt werden. Die Bauern wurden zur Stahlerzeugung abgezogen, die Landwirtschaft vernachlässigt. Millionen Chinesen verhungern damals, nur wenige Gramm Reis wurden einer Person täglich zugeteilt. Vor Verzweiflung und Hunger aßen die Leute Blätter und Baumrinde, fischten den Verstorbenen Essensreste aus dem Mund. Und die Toten blieben nicht selten auf der Straße liegen.

Living Dance Studio - LISTENING TO THIRD GRANDMOTHER'S STORIES Foto: Richy Wong

Living Dance Studio – LISTENING TO THIRD GRANDMOTHER’S STORIES Foto: Richy Wong

Erzählte Geschichten

Werden in den beiden vorangegangenen Performances die großen politischen Themen der 60er Jahre in China verhandelt, so konzentriert sich die dritte Performance LISTENING TO THIRD GRANDMOTHER’S STORIES auf die persönliche Geschichte der 83 Jahre alten Su Mei Lin.

 

 

 

 

 

 

 

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