SPIELART 2021

Männer in Pumps

Nach mehreren Stücken über freie, Widerstand leistende, kämpferische Frauen inszenieren Sie nun quasi als Kontrapunkt eine Gruppe von Männern in Pumps. Geht es Ihnen um die Dekonstruktion von Männlichkeit?

Was heißt Weiblichkeit? Was heißt Männlichkeit? Ich weiß es nicht. Beide Konzepte sind relativ. Männer tragen in sich eine Weiblichkeit, die wir thematisieren, hinterfragen müssen, gleichgültig, wie wir sie definieren. Ich konstatiere, dass Frauen immer wieder auf ihren Po, ihre Lippen, ihre Hüften reduziert werden. Von diesen Klischees will ich mich distanzieren. Ein Mann, der beim Tanzen das Becken schwingt, sich ein bisschen zu sehr wiegt, gilt als homosexuell. Es sind diese scheinbaren Evidenzen, die ich in Frage stelle. Gewiss, hohe Absätze sind heute Attribute der Weiblichkeit – was historisch übrigens nicht immer so war – doch ich sehe sie vor allem als eine Möglichkeit, die Männer herauszufordern, sie in Gefahr zu bringen. Ich will auf der Bühne nicht das Leichte, Entspannte. Auch nicht für meine Tänzer*innen. Das langweilt mich. Mich reizt ihre Verletzlichkeit, wenn ich sehe, wie sie sich auf ihren Stöckelschuhen bewegen. Und ich bin neugierig: Wie werden sie sich diese Absätze aneignen – jeder auf seine Art? Es geht es mir dabei auch um die Umkehrung des (scheinbar) Offensichtlichen: Die Absätze befinden sich nicht notwendigerweise unter den Füßen; sie lassen sich nutzen, ohne dass sie sichtbar wären… Im Fokus des Projekts steht in erster Linie die Freiheit des Seins, des Tanzes, des Ausdrucks.

Die fünf Männer in der Gruppe wenden uns den Rücken zu. Warum diese Geste? Kann ein Rücken ebenso viel sagen, wie ein Gesicht?

Ich zwinge mir gern eine Radikalität auf – hier, indem ich die Interpreten von hinten präsentiere. Neigen wir nicht dazu, viel zu oft unser Gesicht zu zeigen? Ich will mich dagegen den Körpern von der anderen Seite nähern und herausfinden, was es für das Publikum bedeutet, frustriert zu werden, festzustellen, dass es die Gesichter der Künstler nicht sehen kann. Das Frontale ist für mich immer ein Zwang. Ich will die Abwendung, um auch die Zuschauenden aus der Komfortzone zu locken. Die Leute sind viel zu bequem. Sie wiegen sich permanent in Sicherheit. Dagegen setze ich das Fragile in der Vorstellung und die Notwendigkeit, sich mit dem Unbekannten auseinanderzusetzen. Die Zuwendung des Rückens impliziert notwendigerweise etwas Verborgenes, einen Verweis darauf, dass nicht alles gesagt wird, nicht alles offensichtlich ist, dass man fragen und erkunden muss. Steht man hinter jemandem, will man immer wissen, wer sich vor einem befindet, will die Grenzen überwinden, um herauszufinden, was geschieht. Ich sehe den Rücken als relevanten Bedeutungsträger.

Eine weitere radikale Geste ist Nacktheit. War es schwer, die Tanzenden davon zu überzeugen?

Den Rücken zuwenden bedeutet natürlich, den Hintern zu zeigen. Anfangs war ich unsicher, denn einige meiner Protagonisten lehnten das zunächst ab. Sie fühlten sich unwohl. Zwei aneinander klebende Körper, Männerkörper zumal, sind in unserer Kultur eher rar. Doch ich liebe das Risiko und dränge die Mitwirkenden gern, ihre Hemmungen zu überwinden. Ich selbst bin in meinem Privatleben eher prüde. Doch auf der Bühne gehe ich so weit, wie ich gehen muss. Wichtig ist, dass du weißt, warum du etwas machst. Nackt tanzen interessiert mich nur insofern, als es mir erlaubt, etwas anderes zu tun, als ich es angezogen könnte. Abgesehen davon, dass nackte Körper ihren eigenen Charakter und ihre eigene Symbolik haben. Wir werden nackt geboren und sterben nackt. Auch diesen Aspekt thematisiere ich. Ich nutze weiße Tücher, die an Laken und Leichentücher erinnern, in die wir Neugeborene wickeln und Verstorbene hüllen.

Ihre Produktionen implizieren in der Regel stark energetisch aufgeladene, extrem physische, manchmal geradezu brutale Körperzustände. Dürfen wir jetzt trotz der manifesten Sinnlichkeit der Inszenierung die gleiche Intensität erwarten?

Oft ist von Kraft die Rede, wenn es um meinen Tanz geht. Damit ist jedoch nicht unbedingt Muskelkraft gemeint. Gleichgültig ob ich besessen bin oder in Trance: in meinen Bewegungen liegt ebenso viel Schönheit und Spiritualität wie physische Energie. Natürlich werden diese Zustände durch meine choreografische Signatur markiert. Doch sie variieren enorm und manifestieren sich in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Energie und Körperlichkeit der Tanzenden. Die Sinnlichkeit ergibt sich wiederum als Funktion einer Vielzahl von Faktoren: Geschmack, Alter, sexuelle Orientierung. Sie beruht nicht ausschließlich auf der Langsamkeit oder Dauer einer Geste. Sicher ist, dass es mir nicht um Virtuosität geht. Ich suche etwas anderes, etwas, das vor allem vermittelt, dass es sich um lebendige Menschen handelt, die in diesem Augenblick einen ganz besonderen Moment leben.

Wer ist denn dieser Homme rare? Gibt es ihn wirklich?

Ich kann es nicht sagen. Er lässt sich nicht definieren. Denn der Geist hat keine Farbe. Er lässt sich nicht beschreiben. Es gibt ihn vielleicht in jeder und jedem von uns. Doch er ist nicht greifbar. Anfangs dachte ich, ein Rohstoff wie Gold oder Erdöl verdiene es, dass ich mich bewege. Ich dachte, er sei nur sichtbar, wenn ich mir die Mühe machen, auf ihn zuzugehen. Der Homme rare entzieht sich diesen Kategorien. Bei ihm geht es vor allem um Würde, um ein Bewusstsein, ein Gewissen, um Einzigartigkeit und zugleich um die Ambiguität, die jede*m von uns innewohnt, und die wir nicht steuern können. Woher rührt denn unsere Einzigartigkeit und Vieldeutigkeit, wenn nicht aus unseren multiplen Werdegängen? Ich kann nicht in Schubladen verharren. Dort ersticke ich. Wir tragen das Vermächtnis unserer Kultur, doch wir haben alle unsere eigene Mentalität. Es gibt viele Momente, in denen ich mich selbst nicht verstehe, und es ist diese Unbekannte, die mich zu etwas Besonderem macht. In diesem Sinn ist L’HOMME RARE vielleicht auch ein Selbstportrait.

Das Interview führte Florian Gaité für das Festival d’Automne, Paris 2020

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