SPIELART 2021

MOWGLI – Spuren lesen / Spuren legen im Dschungel nichtbinärer Kategorien

Eine Welt, in der soziale Raster keine Rolle mehr spielen, in der die Identität, die geschlechtliche wie die kulturelle, ambivalent und unbestimmt bleiben kann… MOWGLI von Sorour Darabi lädt ein in den Dschungel.

MOWGLI – so heißt das Kind, das von wilden Tieren aufgezogen im Dschungel lebt. Mowgli ist die zentrale Figur in Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“, das eigentlich eine Sammlung von Geschichten ist und das in Bearbeitungen als Kinderbuch, Disneyfilm oder Musical ungleich berühmter ist als in der Originalfassung. Mowgli und der Dschungel sind in all diesen Variationen stets Projektionsflächen: Projektionsflächen für Ängste, Wünsche und Begehren weißer Menschen.

Mowgli ist ein vorpubertäres Findelkind. Ein Kind mit dunkler Haut und schwarzen Locken; Geschlecht wie Herkunft unbestimmt. Ein Menschenkind, das fremd ist im Wald unter den Tieren, aber fremder noch im Dorf bei den Menschen. In den binären Gegensätzen von Dschungel und Zivilisation, Kultur und Natur, Mensch und Tier ist für Mowgli kein Ort, keine Heimat zu finden.

„Mowgli“ ist auch der Titel eines Songs des französischen Rap-Duos PNL von ihrem Debütalbum des Jahres 2014. „Mowgli II“ ist ein Remix von 2019, der Sorour Darabi zum Performanceabend MOWGLI inspiriert hat.

Rudyard Kipling hat die Figur Mowgli erfunden. Der Autor wurde 1865 im heutigen Mumbai geboren. Das Kind anglo-indischer Eltern wuchs in der Obhut eines portugiesischen Kindermädchens und eines Hindi sprechenden Dienstboten auf. In seiner Autobiographie, die mit einem Dank an Allah beginnt, beschreibt er, wie unnatürlich es ihm als Kind erschien, mit seinen Eltern auf Englisch zu kommunizieren.1 Als viktorianischer Autor verfasste er Geschichten über Imperialismus und Kolonialismus, die im 20. Jahrhundert von der Kritik als rassistisch, apologetisch und geprägt vom Überlegenheitsgefühl des weißen Mannes verurteilt wurden. Erst in jüngerer Zeit, auch im Kontext postkolonialer Perspektiven, werden satirisch-überzeichnete Elemente und literarische Komplexitäten seiner Texte, werden Hybridität und Ambiguität vermehrt wahrgenommen. Vielleicht schmerzt sein weißer Blick auf den kolonialen Alltag im britischen Empire auch deshalb heute noch so sehr, weil bei seiner Lektüre am kolonialen Unbewussten der weißen Leser*innenschaft gerührt wird und so Selbstverortung und Selbstvergewisserung notwendig werden.

Kipling verstand sich, wie seine Eltern, als Anglo-Indisch. In der damaligen Zeit war das die Selbstbezeichnung von Menschen englischer Herkunft, die in Britisch-Indien geboren waren oder dort sehr lange Zeit gelebt hatten. Heute kann der Begriff verschiedene Gruppierungen bezeichnen: Menschen mit britischen und indischen Elternteilen oder Menschen indischer Herkunft, die im Vereinigen Königreich leben, wobei die letztgenannte Gruppe zumeist den Begriff „British Asian“ wählt.

Beim französischen Hip-Hop-Duo PNL, gute 120 Jahre nach Kipling geboren, sind Spuren und Erbe der europäischen Kolonialgeschichten ebenfalls in den Biografien eingeschrieben. PNL besteht aus dem Brüderpaar Tarik (*1986) und Nabil (*1989) Andrieu, die beide zuvor als Solokünstler unter den Namen Ademo bzw. N.O.S. auftraten. Geboren und aufgewachsen in einem südlichen Vorort von Paris, stammt ihre Familie mütterlicherseits von Berbern aus der Kabylei ab. Ihr Vater René ist auf Korsika geborener Pied-Noir, also ein in Algerien geborener Nachkomme französischer Kolonialisten, die nach der Unabhängigkeit Algeriens nach Korsika migrierten. Den Dschungel, den PNL in „Mowgli“ beschreiben, ist das – durchaus biografisch erfahrene – Leben als Gangster und Drogenhändler im gewaltgeprägten Umfeld der Hochhaussiedlungen in den Banlieues.

Zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbezeichnung, zwischen mehrfach geschachtelten Stufen der Entfremdung und der Selbstbehauptung bewegt sich die Performance von MOWGLI. Wie gestalten sich die Verhältnisse von Eigennamen, Fremdbezeichnungen und Zuschreibungen? Welchen Einfluss haben Projektionen auf die eigene Identität? Verleiht Verführung Macht oder ist sie Zeichen einer Position der Unterlegenheit und Ohnmacht? Was passiert, wenn binäre Ordnungen ihre Orientierungsfunktion einbüßen und als unbrauchbar erfahren werden?

Sorour Darabi, 1990 im zentraliranischen Shiraz geboren, lebt und arbeitet in Paris und Berlin und identifiziert sich als nichtbinär. In einem Interview vom Herbst 20182 betont Sorour Darabi, dass biografisch die Hinwendung zur künstlerischen Arbeit ein erster Akt des „Coming-out“ war und erst danach die Frage der politischen Selbstpositionierung als trans nichtbinäre Person relevant wurde. 2010 schloss sich Sorour Darabi dem von Mohammad Abbasi neu gegründeten ICCD, dem „Invisible Center of Contemporary Dance“ an. Tanz, insbesondere als westlich wahrgenommenes zeitgenössisches Tanztheater, ist im Iran offiziell verboten und wird bestenfalls als „rhythmische Bewegung“ geduldet. Daher konnten Workshops, Vorführungen oder auch das Tanzfestival UNTIMELY, bei dem Darabi erste Solo-Performances zeigte, nur als Untergrundaktivitäten stattfinden. 2013 verließ Sorour Darabi den Iran, um in Montpellier eine professionelle Tanz- und Choreografie-Ausbildung zu absolvieren. Die iranische Herkunft sowie Fragen nach Kultur, Sprache, Identität und Intersektionalität, Gender, Queerness und Sexualität, kurz Schichten des „Othering“ wie der „Otherness“ prägen seither die künstlerische Arbeit.

In der Solo-Performance Farci.e von 2016 etwa wurde das Zusammenspiel von Gender, Sexualität und Linguistik reflektiert. In der persischen Grammatik wird nicht zwischen männlichen und weiblichen Formen unterschieden. Bei Liebesliedern oder -gedichten weiß man daher nie genau, ob das Objekt des Begehrens ein Mann oder eine Frau ist. Und auch bei Beschreibungen körperlicher Schönheit sind Attribute und Adjektive nicht eindeutig männlich oder weiblich konnotiert.

Während das Spiel mit Ambiguitäten, die der Titel der Performance zwischen Farce und Farsi nahelegt, auf der Ebene der Grammatik also möglich ist, müssen Körper in der islamischen Republik jedoch eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können. Schon 1963 hatte Khomeini erklärt, dass geschlechtsangleichende Operationen bei Trans- oder Intersexualität nach islamischem Recht möglich seien. Nach der Revolution, ab Mitte der 1980er Jahre, wurde Transsexualität in der Islamischen Republik unter Khomeini offiziell anerkannt und der Staat übernimmt bis zur Hälfte der Kosten für geschlechtsangleichende Maßnahmen. Zugleich ist Homosexualität unter Strafe verboten und nichtbinäre Körper sind im offiziellen System nicht vorgesehen. Während in der Sprache der Tanz der Zeichen möglich ist, muss ein Körper – sei es im Alltag oder auf einer Bühne – im Iran eindeutig als weiblich oder männlich gelesen werden können.

In Savušun (2019) wird das schiitische Trauerritual zu Aschura thematisiert und mit vorislamischen, persischen Mythen um den Helden Siavash in Beziehung gesetzt. An Aschura, dem zehnten Tag nach dem islamischen Neujahrsfest im Trauermonat Muharram, wird der Schlacht von Kerbala 680 n. Chr. und dem Tod von Imam Hossein, dem Enkel des Propheten, gedacht. Traditionell ziehen an diesem Tag Gruppen von weinenden, trauernden, wehklagenden Männern in einer Prozession durch die Straßen, schlagen sich rhythmisch mit der Hand vor die Brust oder geißeln sich selbst. Die Verletzlichkeit des männlichen Körpers und der Schmerz der männlichen Seele werden so öffentlich und kollektiv zelebriert, als Zeichen der Schuld und des Versagens wie auch von Robustheit und Widerstandsfähigkeit ausgestellt.

Sorour Darabi deckt in den Solo-Performances die vielschichtige Komplexität und Widersprüchlichkeit patriarchaler Gesellschaften auf, die auf Binarität und Strukturen der Über- und Unterlegenheit wie des Ausschlusses beruhen. Im bereits erwähnten youtube-Interview über „das Postbinäre in der künstlerischen Praxis“ (2018) kritisiert Darabi, mit Verweis auf intersektional geprägte Analysen, dass Queerness in westlichen (urbanen) Kulturen zumeist als weiß und wohlhabend angenommen wird, während einer Person, die als „muslimisch“ gelesen wird, oft automatisch ein Opferstatus zugeschrieben wird. Ziel der Performances ist es dabei, so Darabi an anderer Stelle, „einen Raum jenseits der etablierten Binaritäten [zu] schaffen, einen Ort, an dem man leben kann. Die binäre Konstruktion lässt uns glauben, dass man sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss. Allerdings finden viele Menschen ihren Platz zwischen zwei normativen Binaritäten nicht.“3

Der Raum von MOWGLI ist ein abstrakter, leerer schwarzer Bühnenraum, aus dessen Boden sich zu Beginn die zarte, behaarte, nicht-weiße Gestalt von Sorour Darabai schält, sich eine Langhaarperücke über den lockigen Kopf und Kleidung über den Körper streift, um sich dann u.a. als Hund und als Feminist*in vorzustellen, nur um zwischen „ich bin“ und „man nennt mich“ einen Möglichkeitsraum des Ungewissen, des Missbrauchs und der Emanzipation aufzumachen. Die Machtverhältnisse der Blicke und Körper, die Gewaltverhältnisse rassistischer, sexistischer, trans- und homophober Gesellschaften werden in performativen und Sprechakten nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch spielerisch jongliert und zum Tanzen gebracht.

Der Dschungel Mowglis ist nicht nur der Dschungel der urbanen Subkulturen und der marginalisierten Vorstädte, Ghettos und Problembezirke, sondern auch „Jangal“, das persische Wort für Wald oder Dickicht. Das Altpersische und Sanskrit sind nah verwandte Sprachen, so dass angenommen wird, dass das indische Wort für Dschungel vom persischen „Jangal“ abstammt. Über Indien migrierte das Wort in die Sprache der britischen Kolonialmacht und von dort, aus dem Englischen, wurde „Jungle“ als „Dschungel“ in die deutsche Sprache übernommen.

Auch wenn der Iran nie „richtige“ Kolonie war, so weckte das Land jedoch immer das Interesse der jeweiligen Weltmächte. Während des Imperialismus buhlten und kämpften insbesondere die Großmächte Großbritannien und Russland um Einfluss und Vorherrschaft.

In der nordiranischen Provinz Gilan, an der Südküste des Kaspischen Meers, findet sich ein dichter, feuchtsubtropischer Gebirgswald, seit 2019 Weltnaturerbe der UNESCO, ein Jangal. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in dieser Region die Rebellion der islamisch-sozialistischen Jangal-Bewegung, einer Gruppe proletarischer Guerillakämpfer, die gleichermaßen gegen die Machtansprüche des russischen Zarenreichs wie des britischen Empire ankämpfte und, hervorgegangen aus der konstitutionellen Revolution des Iran, zudem die Herrschaft der kadscharischen Monarchie überwinden wollte.

Sorour Darabis MOWGLI kommt leicht, verspielt und etwas melancholisch daher, doch die Performance vom „wilden Kind“ – das soll der Name Mowgli, obgleich erfunden, laut Kipling bedeuten – dieser Akt des Wild-Werdens, des Tier-Werdens, ist durchaus als philosophisch informierter, politischer Akt der Wiederaneignung und der Transgression zu begreifen.

Die Recherchen zu MOWGLI entstanden in Kollaboration mit Tarek Lakhrissi und Ndayé Kouagou. Tarek Lakhrissi (*1992) ist ein französischer Installations- und Videokünstler, Performer und Poet. Er hat Literatur- und Theaterwissenschaften sowie Kunstgeschichte in Paris und Montreal studiert. Echo wird 2022 im Münchner Haus der Kunst zu sehen sein.4 In seiner futuristischen Videoarbeit Out of the Blue (2019), die u.a. bei der Sydney Biennale 2020 präsentiert wurde, ist Sorour Darabi in einer Hauptrolle zu sehen.5 Wie bei Darabi sind auch bei Lakhrissi Postkolonialismus, Queerness und Nichtbinärität wichtige Aspekte der künstlerischen Arbeit. In Out of the Blue stehen utopische Konzepte des Übergangs im Mittelpunkt. Es sind Schwellenräume, Durchgangsorte, Orte des Dazwischen und der Transgression, die neue Möglichkeitsräume eröffnen.

Auch der französische Künstler und Performer Ndayé Kouagou ist 1992 geboren. Seine visuellen Arbeiten beruhen stets auf eigenen literarischen Texten. Seine Website und seine Präsenz auf Instagram sind unter dem Label „Young Black Romantics“ zu finden.6 Nach einem Soziologiestudium hat er sich autodidaktisch als Künstler ausgebildet. Ende 2020/Anfang 2021 wurden seine Arbeiten in der Solo-Show TBH if it’s not about me I’m not interested in der Münchner Galerie Nir Altman präsentiert.7

Die enge Kollaboration von Darabi, Lakhrissi, Kouagou und anderen zeugt von einem nachhaltigen Community-Building, von kreativen Arbeitsstrukturen, die auf affinitätsgestützten Wahlfamilien beruhen, die sich gegenseitig stärken und wechselseitig durchdringen. Im zeitgenössischen urbanen Dschungel finden sich Gemeinschaften mehrfach Marginalisierter zu künstlerischen Netzwerken zusammen. Hegemoniale Blickregime, die ihre Selbstvergewisserung gewöhnlich aus asymmetrischen binären Machtstrukturen – und damit auch aus Ausschluss, Verdrängung und Unsichtbarmachen sowie aus Sexualisierung und Exotisierung – gewinnen, werden durch die vielfältigen Schichten nichtbinärer Otherness wie in einem Kaleidoskop gebrochen, gequeert und neu zusammengesetzt. Bei aller Verspieltheit bleiben Schmerz, Überlebenskampf und Melancholie dabei jedoch spürbar.

„Ich habe kein Land“, bekennt Sorour Darabi. „Ich fühle mich keiner Nation kulturell oder materiell verbunden. Mein trans Körper ist nomadisch. Er kann keiner Kategorie der Geschlechter- oder Identitätspolitik zugeordnet werden.“8

MOWGLI ist ein Solo-Abend, hinter dem die Gemeinschaft der Dschungelbewohner*innen, ihrer translokalen Biographien und nichtbinären, multiplen oder hybriden Identitäten aufblitzt. „Ich glaube an das Potenzial, durch Kunst eine Form sozialer Gerechtigkeit zu erfinden“, beschreibt Sorour Darabi in etcetera die eigene Arbeitsweise. „Meine künstlerische Forschung und mein Alltag kreuzen sich dort, wo ich ständig Überlebensstrategien zwischen Selbstfürsorge und gesellschaftspolitischen Kämpfen erfinden muss.“9

Silvia Bauer

1 Vgl. Rudyard Kipling, „Something of Myself” (1937), http://www.telelib.com/authors/K/KiplingRudyard/prose/SomethingOfMyself/index.html, zuletzt abgerufen am 07.10.2021

2 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ydewbsmge5c, “Small Talk: on the aspect of post-binary on art practices” (24.10.2018), zuletzt abgerufen am 07.10.2021

3 Aus: https://e-tcetera.be/mon-corps-trans-est-nomade zuletzt abgerufen am 07.10.2021

4 ECHO wird als Gruppenausstellung von Tarek Lakhrissi für 2022 bereits in seinem Lebenslauf aufgelistet. Abzurufen bei Vitrine Gallery, https://www.vitrinegallery.com/artists/tarek-lakhrissi Im Interview mit Hans-Ulrich Obrist spricht Lakhrissi von einer neuen Videoarbeit mit dem Titel SPIRALING für eine Ausstellung im Haus der Kunst, die eine Hommage an Felix Gonzales-Torres „Untitled (Go-Go Dancing Platform)“ (1991) sein soll. „A heart pierced by an Angel’s spear: Tarek Lakhrissi in conversation with Hans Ulrich Obrist“ (05.07.2021), https://www.moussemagazine.it/magazine/tarek-lakhrissi-hans-ulrich-obrist-2021/ beides zuletzt abgerufen am 07.10.2021

5 https://www.biennaleofsydney.art/artists/tarek-lakhrissi/ zuletzt abgerufen am 07.10.2021

6 http://youngblackromantics.com/ und https://www.instagram.com/youngblackromantics zuletzt abgerufen am 07.10.2021

7 https://niraltman.com/Ndaye-Kouagou zuletzt abgerufen am 07.10.2021

8 https://e-tcetera.be/mon-corps-trans-est-nomade zuletzt abgerufen am 07.10.2021

9 https://e-tcetera.be/mon-corps-trans-est-nomade/ zuletzt abgerufen am 07.10.2021

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