SPIELART 2019

Theater als Therapie

Interview: Kristina Kilian & Julia Weigl

Münder wachsen aus Ellbogen, ein Mann verwandelt sich in eine Pagode, eine Biene bringt den Kopf einer Frau zum Explodieren. Ohne Worte kombiniert der chinesische Künstler Dai Chenlian in seinem Theaterstück BIG NOTHING Kindheitserinnerungen mit Geistergeschichten und Legenden – und schafft dadurch eine neue Form von Realität. In China gilt Dai Chenlian als Pionier in der Kombination von Theaterkonzepten und Videokunst. Kristina Kilian und Julia Weigl haben für Spielart mit dem chinesischen Künstler über Fantasie und Wirklichkeit gesprochen und darüber, warum Theater für ihn ein Heilmittel ist, um seine eigene Schüchternheit zu überwinden.

In Ihren Arbeiten verbinden Sie häufig chinesische Theatertraditionen wie Schatten- und Puppenspiel mit Videoinstallationen. Auch in ihrem aktuellen Stück BIG NOTHING bedienen Sie sich unterschiedlicher Techniken. Wie würden Sie ihre Arbeit beschreiben?

Ich nenne das ein paralleles Theaterstück. Es besteht aus Videos, Puppenspiel und Kunstinstallationen. All das findet in einem Raum statt. In BIG NOTHING verbinde ich drei unterschiedliche Zeitlinien und Geschichten miteinander: Die erste ist eine gruselige Geschichte, in der zweiten geht es um meine Oma und die dritte basiert auf einer bekannten Literaturvorlage von dem chinesischen Autoren Lu Xun. Für München wollte ich eine weitere Ebene einbauen und den Ort, an dem ich das Stück performe, das Einstein Kultur integrieren Ich nenne ihn das Grab.

Auch in BIG NOTHING verarbeiten sie autobiografisches Material. Das ist sehr typisch für Ihr Werk. Warum?

Ja, auch BIG NOTHING hat mit mir und meiner Kindheit zu tun. Ich bin meiner Heimat sehr stark verbunden. Ich bin in einem kleinen Städtchen in China aufgewachsen, in Shaoxing. Auch Lu Xun ist in dieser Stadt geboren und hat sie immer wieder in seiner Literatur erwähnt. Shaoxing ist eine wunderschöne, kleine, traditionelle chinesische Stadt, die an einem prächtigen Fluss liegt. Eine Kleinstadt mit Fluss ist ein sehr häufiges Bild in der chinesischen Kunst und im literarischen Werk von Lu Xun. Bereits als Kind habe ich mich sehr für Literatur interessiert. Damals hatte ich den Traum, Autor zu werden. Deshalb wollte ich eigentlich auch Literatur an der Universität studieren, was leider nicht geklappt hat. Stattdessen bin ich an der Kunstakademie gelandet und habe gemalt.

Träumen Sie auch heute noch davon Schriftsteller zu sein?

Heute sehe ich das anders, für mich sind alle Kunstformen – ob Literatur, Theater oder bildende Kunst – Kanäle, um Gefühle zu äußern. Am Ende geht es darum ein Medium zu finden, wie ich als Künstler Emotionen vermitteln kann.

Ein Begriff der häufig in Zusammenhang mit ihrem Werk fällt, ist Realität. Wie sehen diese Wirklichkeiten aus?

Da möchte ich zunächst einen Schritt zurückgehen und fragen: Was ist eigentlich Realität? Was ist Traum? Können wir das wirklich so klar unterscheiden oder sind die Grenzen nicht oft verschwommen? Auch in diesem Moment können wir nicht sagen, ob alles in der Wirklichkeit stattfindet oder sich Teile davon in unserer Fantasie abspielen. Für mich kommt es immer darauf an, wie man den Begriff Realität definiert. Viele sagen, dass unsere Träume keine Realität sind. Da frage ich mich: Stimmt das? Ist das nicht eine andere Form von Realität…

Realität ist natürlich ein sehr abstrakter Begriff. Können Sie uns da ein konkretes Beispiel nennen?

Ich bin jetzt 37 Jahre alt und manchmal kann auch ich nicht unterscheiden, ob ich gerade träume oder wirklich am Leben bin. Nur wenn ich mir selbst eine Ohrfeige verpasse, merke ich, dass ich gerade wach bin und wirklich Schmerzen empfinde. Das zeigt mir: Ich spüre etwas und bin am Leben. Auch das ist eine Realität.

Geht es in Ihren Arbeiten also vor allem darum, den Realitätsbegriff in Frage zu stellen oder zu zeigen, dass die Grenzen schwammig sind?

In meiner Arbeit geht es um die Kreation von Zeit. Ich arbeite gerne mit unterschiedlichen Zeitebenen, das ist ein Hauptthema in meinem Werk. Und diese Zeitebenen möchte ich miteinander verbinden. Das lässt sich gut mit Videos und Filmen vergleichen. Wenn ich einen Film schneide, dann kann ich Ebenen und Szenen neu miteinander verbinden, dann entsteht immer wieder ein ganz neuer Film – und genau darum geht es auch in meinem Werk, das aus Traum und Wirklichkeit besteht.

Warum wählen Sie dann dennoch immer wieder den Theaterraum als Ort für Ihre Kunst?

Auch da schöpfe ich aus meinen eigenen Erfahrungen, die ich in meiner Kindheit gemacht habe. Ich hatte damals wenig Selbstbewusstsein. Ich habe später an der Kunstakademie studiert. Aber auch dort hat sich mein Problem nicht gelöst. Ich war immer noch sehr unsicher. Dieses Problem wollte ich immer lösen. Dann habe ich durch Zufall entdeckt, dass ich Orte mag, an denen viele Menschen sind. Das ist für mich ein Heilmittel, eine Art Therapie. Irgendwann habe ich bemerkt, dass im Theater immer sehr viele Menschen sind, die sehr aufmerksam dem Geschehen auf der Bühne folgen. Das gibt mir ein sehr gutes Gefühl. So habe ich das Theater als Kommunikationsmedium und Ort immer mehr für mich entdeckt.

Das ist sehr kurios. Eigentlich ist es oft andersherum, dass Menschen Angst haben, vor einer großen Gruppe zu performen…

Viele Leute haben Lampenfieber, aber bei mir ist das Gegenteil der Fall. In mir löst die Situation, vor einer Gruppe zu stehen und live zu performen, Spannung und Glück aus. Ich mag das Gefühl, dass man mit vielen unbekannten Faktoren konfrontiert ist. Man weiß nie genau, was passieren wird. In einem Raum voller Menschen entsteht immer eine ganz besondere Energie. Wir können uns spüren und miteinander kommunizieren.

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