SPIELART 2015

Über Kinderfresser und blinde Visionäre: Die Lügen der Geschichte und der lange Weg von Syrien nach Europa

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„The Blind Poet“ stellt die Darsteller der international zusammengesetzten Needcompany in ihren Einzelbiographien vor. Verknüpft werden die multikulturell geprägten Identitäten der Jetztzeit mit der Geschichte der Vorfahren zur Zeit der Kreuzzüge. Doch steht dabei nicht die bekannte Geschichte der tapferen Ritter im Mittelpunkt, sondern die unbekannte Überlieferung vom brutalen Wüten christlicher Analphabeten, die im fernen Syrien zu Kannibalen wurden.

 

 

 

 

“In dieser Welt gibt es nur zwei Sorten Menschen – intelligente Menschen ohne Religion und religiöse Menschen ohne Intelligenz.“ Dieses Zitat wird dem im Alter von vier Jahren erblindeten arabischen Dichter Abu al‘Ala al-Ma’arri zugeschrieben, der 973 im syrischen Ma’arra geboren wurde, ganz in der Nähe von Aleppo. Ein Besuch in der Moschee von Cordoba machte Jan Lauwers vor Jahren auf die komplexe Verquickung der christlich-abendländischen mit der islamisch-morgenländischen Geschichte aufmerksam. Er entdeckte die Geschichte und die Werke des blinden Dichters Abu al’Ala al-Ma’arri, der zum zentralen Ideengeber für den Theaterabend The Blind Poet wurde. Ein weiterer Bezugspunkt wurde die um das Jahr 1000 geborene andalusische Dichterin Wallada bint al-Mustakfi, Tochter des Kalifen, die so gar nicht dem heutigen westlichen Bild einer Muslimin entspricht, sowie die blinden Dichter Homer und James Joyce.

Es ist spannend zu sehen, wie die Geschichte der Kreuzzüge seit einigen Jahren künstlerisch bearbeitet und kritisch dekonstruiert wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei die dreiteilige Videoarbeit „Cabaret Crusades“ des ägyptischen Künstlers Wael Shawky, die ihrerseits auf der 1983 erschienenen Studie „Der heilige Krieg der Barbaren: die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber“ des französisch-libanesischen Intellektuellen und Dichters Amin Maalouf basiert. Jan Lauwers und die Needcompany betonen in ihrer Sicht auf die Geschichte der Kreuzzüge die Zuschreibungen der aufgeklärten, weltoffenen Muslime im Kontrast zu den ungebildeten, brutalen Kreuzrittern und stellen damit die heute in der westlichen Welt vorherrschenden Stereotype auf den Kopf. Der Untertitel von „The Blind Poet“ lautet nicht zufällig „On the Lies of History“, denn die Geschichte wird schließlich stets von den Siegern geschrieben.

Auch in anderem Zusammenhang bleibt Abu al’Ala al-Ma’arri zentral, wie während der Vorstellung eingeblendete Bilder zeigen: Ende 2013 wurde eine Büste des Dichters, die in seiner Heimatstadt Ma’arra aufgestellt war, von Terroristen des Da’esh geköpft. Gleichzeitig fand in Ma’arra 915 Jahre früher ein grauenvolles Massaker statt: Bei der Belagerung von Antiochia ging den Kreuzrittern der Nachschub aus.  Am 12. Dezember 1098 erstürmten die Kreuzritter die Stadt Ma’arra, plünderten sie, töteten alle Männer und verkauften die Frauen und Kinder in die Sklaverei. Man spricht von 22.000 Opfern. In der Stadt wurden jedoch nicht die erwarteten Lebensmittel gefunden. Und so berichten verschiedene (westliche) Chronisten davon, dass Kinder auf Spieße gesteckt, gegrillt und verspeist wurden. Die Kreuzritter, unsere Vorfahren, waren Kannibalen.

Für „The Blind Poet“ recherchierten die Mitglieder der Needcompany ihre individuellen Biographien und kamen zu erstaunlichen Ergebnissen, die zwischen Dokumentarischem und Spekulativem oszillieren. Beeindruckend in ihrer Poesie und Vitalität ist bereits die Anfangssequenz. Nachdem die Gruppe der Schauspieler und Musiker, alle in bunten Patchwork-Mänteln, die an den Einmarsch von Boxern vor dem Wettkampf erinnern, den Weg durch den Saal zum Orchestergraben zurückgelegt und ihre Plätze eingenommen haben, begrüßt eine der Performerinnen, fast schüchtern und wie nebenbei das Publikum mit einem „Hello, I am Grace“. Aus diesem simplen Satz entfacht sich ein Tornado an Expression und Emotion. Stückweise vervollständigt sie ihren Namen zu Grace Ellen Barkey, nimmt die Bühne wie ein Popstar in Beschlag, sinkt verunsichert in sich zusammen, lässt sich durch die rhythmisch skandierenden Anfeuerungsrufe „Grace Ellen Barkey!“, die der Rest der Needcompany ihr aus dem Graben entgegenruft, wieder motivieren, neu zu erstrahlen. Ihr Kostüm ist eine wilde Mischung aus einem gelben „asiatisch-folkloristischem“ Kleidchen, einem überdimensionierten Blumenkopfschmuck, einer roten Clownsnase und riesengroßen Clownsschuhen. Dazu ein Makeup, das aus der Entfernung wie ein Hybrid aus Clown und Indianer auf dem Kriegspfad aussieht, aber auch eine Andeutungen von Blackface und Kannibale enthalten könnte. Wir erfahren die multikulturelle Biographie von Grace Ellen Barkey, die nebenher auch die Lebensgefährtin von Jan Lauwers ist: Geboren in Indonesien, dem zahlenmäßig größten muslimischen Staat, in eine Familie, deren Wurzeln nach China führen. Mit zwei Jahren als Flüchtling in die Niederlande gekommen, für Jan Lauwers Jahrzehnte später nach Belgien gezogen, wo die beiden katholisch getauften Kinder aufwachsen. Zu Grace Ellen Barkeys Ur-Ahnen zählen sowohl ein Bremer Bürgermeister aus dem 17. Jahrhundert, Caspar Barkey, wie auch der Plantagenbesitzer Anthony Barkey, der auf Guyana zahlreiche Sklaven besaß, darunter auch viele Sklavinnen, so dass es seither unzählige dunkelhäutige Nachfahren der Barkeys gäbe.

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Nach und nach stellen sich im Lauf des Abends sieben Performer einzeln dem Publikum vor. Nicht alle Lebensgeschichten sind so global wie die Grace Ellen Barkeys. Der Tänzer Mohamed Toukabri präsentiert sich als monokulturell tunesisches Geschöpf; Maarten Seghers, Neffe von Jan Lauwers und auf SPIELART auch mit einem eigenen Programm vertreten, berichtet stolz von der langen, über 40 Generationen währenden Familientradition als Waffenschmiede, die bis zu den Kreuzzügen zurückweist und die erst durch Jan Lauwers und Maarten Seghers durchbrochen wurde. Geschichten von norwegischen Wikingern und segelnden, mennonitischen Friesinnen sowie von jüdischen Cowboys aus Minsk, die das französische Exil suchten, vervollständigen das Potpourri im Identitätencocktail der Needcompany. Nach der Pause eröffnet Benoit Gob, ebenfalls im gelben Kostüm, ebenfalls mit Clownsmaske und –schuhen mit seiner Biographie. Er erzählt von seiner Kindheit zwischen Alkohol und Prostitution, geprägt von Armut und Verwahrlosung, vom seelisch wunden Kind und dem starken, muskelbepackten Mann und fügt den Parametern von Religion und Ethnie die der Klassenunterschiede hinzu.

All diese Überlegungen zu postkolonialen Identitäten, all die historischen Versatzstücke und Verweise auf unterschiedliche Überlieferungen der Kreuzzüge hätten ein abstraktes, intellektualisierendes Theater werden können. Das es das nicht geworden ist liegt einerseits an der stimmigen Musik, die Maarten Seghers komponiert hat und andererseits an den poetischen, starken und eindrucksvollen Bildern, die Jan Lauwers und die Needcompany für jede einzelne Szene gefunden haben. Da ist der tote Pferdekörper, der auf einer überdimensionierten Waage oder Hebevorrichtung immer wieder über die Bühne gefahren wird und der zwischendurch von den Schauspielern durch wenige Handgriffe zum Leben erweckt wird. Da sind zwei fahrende Türme mit übergroßen Lanzen, die wie Kreuzritter oder Schachfiguren immer wieder gegeneinander anrennen. Da ist im letzten Bild ein riesiger grauer Ballon mit merkwürdigen Ausbuchtungen, der an ein Krebsgeschwür, einen schrägen mittelalterlichen Morgenstern, einen unbekannten Todesplaneten oder aber den Survival-Ball der Yes Men erinnert.

Auch wenn es, mit Abu al’Ala al-Ma’arri gesprochen, nur zwei Sorten Menschen gäbe, so gibt es als Fazit des „Blind Poet“ doch nur eine einzige Menschheit und irgendwie, zumindest weit in der Geschichte, sind wir alle untrennbar miteinander verbunden. Es gibt kein Schwarz oder Weiß, keine Opfer oder Täter, sondern immer nur ein „und“, ein „sowohl als auch“.

Der große Jubel des Publikums beim Schlussapplaus und das große Interesse beim anschließenden Künstlergespräch zeigen, dass diese Botschaft Resonanz gefunden hat.

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