SPIELART 2015

Zwischen Traum, Tanz und Realität

In der Performance „Le Socle des Vertiges“ des Kongolesen Dieudonné Niangouna mischt sich Historisches mit Fiktion. Niangouna ist im sozialistischen Kongo zur Welt gekommen und im Krieg groß geworden. Er studierte Schauspiel in Brazzaville, wuchs in einem intellektuellen Haushalt auf, sein Vater lehrte als Professor an der Uni Sorbonne in Paris. Mitten in den Kriegswirren gründete er zusammen mit seinem Bruder  die „Compagnie Les Bruits de la Rue.“ Während sein Bruder dem Kongo aber bald den Rücken kehrte, wollte Niangouna bleiben. Für ihn war das Theater ein Akt des Überlebens, eine Art Widerstand gegen den Krieg, „Spiel das Leben“, „Text eine Waffe“. Und so ist seine Performance eine attackierend-böse Antwort, schneller und durchbohrender als die Kugeln der Gewehre.

 

„Herzen der Finsternis“: Kolonialismus in Afrika

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Brazzaville, Hauptstadt des Kongos: Ein Mann tritt im zerschlissenen Hemd auf die Bühne und schaut ins Publikum. Beinahe herausfordernd, suchend wandern seine Blicke durch die Sitzreihen. Das Stimmengewirr löst sich jäh auf. Raffiniert. Als er, unter einer Lampe stehend, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, gießt er einen Eimer mit weißer Farbe über sich aus.

Diese Szene hat starke Symbolkraft, das Weiß zieht sich durch die gesamte Performance hindurch: Die Macht der Kolonialisten, der Franzosen, Deutschen, ja, sogar Chinesen, über den schwarzen Kontinent. Es ist demütig, dieses „sich Begießen“, das Zulassen, nicht Handeln, sich zum Opfer machen. Unlängst ist das „Schwarze“ nun okkupierte Farbe der Europäer, freigegeben zum Handel, zur rassistischen Beleidigung, zur Gewalt. Sie, die „Anderen“ wollen den Kontinent weiß färben, übertünchen, missionieren.

Das ist das „Herz der Finsternis“, das Herzstück der Performance: Der seit Jahrhunderten andauernde Kolonialismus mit all seinen Konsequenzen, von der Fremdbestimmung über die Ausbeutung bis hin zur modernen Sklaverei, dem Postkolonialismus. In der Performance überschlagen sich die Ereignisse im Kongo seit der Gründung von Brazzaville (benannt nach dem Italiener! De Brazza), im Oktober 1880. Auf die französische Kolonisierung im 19. Jahrhundert folgen ganze drei „glorreiche Tage Revolution“, der Marxismus und Leninismus und schließlich eine Reihe Verbrechen: Mord, Korruption, Diktatur. Als sich in den 90er Jahren die Demokratie im Kongo durchsetzt, hat der Lebenswahnsinn seinen Höhepunkt erreicht. Das Land versinkt in blutigen Bürgerkriegen, die Privatmilizen, sogenannte Rebellen, verbreiten nichts als Angst und Schrecken. Die Konsequenz: Geistiger Abbau, Werteverfall, Verrohung – moralisch und körperlich. Dieser „afrikanische Kadaver“ lockt Schmeißfliegen und Aasgeier aus dem Westen an, Rohstoffe wie Öl zu plündern, Jagd auf die Zivilbevölkerung zu machen, genau wie auf angebliche Hexen. Die „zivilisierten Weißen“ wollen gar keine Missionierung mehr, sie wollen den Aberglauben bewusst aufrecht erhalten, eine Bevölkerung „dumm“ halten, um sich in Ruhe bereichern zu können. Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit macht sich unter den Einwohnern breit. In der Schule werden schon früh Ideologien indoktriniert. Und als wäre es nicht genug, so viel zu ertragen, zu viel für den Menschen, hat das afrikanische Volk auch noch mit einer maroden Infrastruktur, Wassermangel, Malaria und Aids zu kämpfen.

Im „Angeberviertel“

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Das einleitende Französische „Imagine – stell Dir vor“ läutet nicht etwa den Beginn einer Utopie ein, nein, es untermauert die Unmündigkeit der Kongolesen. Als wäre es beinahe unerhört, sich eine eigene Geschichte vorzustellen, ist sie doch immer von anderen erzählt worden. Dieudonné Niangouna selbst sagte einmal, er habe sich durch ausländische Einflüsse selbst geboren, „erst die Ernährung durch ein Anderes ermöglicht es, dass man sich selbst erschafft.“ So wird auch die Performance in französischer Sprache präsentiert – in der Sprache der Unterdrücker.

Die beiden ungleichen Brüder, Fido und Roger treffen das erste Mal im „Angeber-Viertel“ in Brazzaville aufeinander, nach Jahren, in denen sie getrennt voneinander aufwuchsen. Roger auf der Straße, Fido bei seinen Eltern. Ersterer findet den Vater tot vor, ermordet („mort“), er geht zum Bruder, sie sprechen über Diane, die jeder auf seine Weise liebt, die ihr Kind erwürgt, weil sie nicht weiß, von wem es stammt und wen sie liebt. Schließlich tötet sie sich selbst. Die Frauen im Stück sind unsichtbar, haben keine Stimme, kein Gesicht, oft werden sie als Huren bezeichnet.

Im Kongo herrscht ein Krieg der Geschlechter, der Macht, und letztlich einer, der gegen sich selbst geführt wird. Zahlreiche Frauen wurden auf brutalste Weise vergewaltigt, 2 bis 80-Jährige, genauso wie 15-jährige, die schwanger wurden. Ihre Peiniger: Polizisten, Regierungstruppen, Rebellen, die als Kindersoldaten zum ersten Mal zur Waffe griffen und selbst oft misshandelt wurden. Fido kann das nicht mitansehen und verlässt wutentbrannt den Kongo, Roger soll nun seinen Platz einnehmen. Er bringt den toten Vater zu seinem Onkel, ein Arzt, der ihn aber natürlich auch nicht mehr zurück ins Leben holen kann, woraufhin Roger diesen foltert. Denn er glaubt nicht, dass Aberglaube Unfug ist.

Im düsteren Taumel gefangen

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Dann wird alles konfus. Eine bizarre Szene folgt auf die nächste. Die Bilder lassen sich nicht zusammen puzzeln. Niangouna will das ganze Ausmaß der Unmenschlichkeit aufzeigen, das sich aber nicht logisch, rational erklären lässt. Der Mensch wird wahnsinnig, ungestüm, instabil, zerbrechlich-zart, aggressiv-wütend, wie im rauschhaften Traum, im Taumel gefangen. Niangouna gibt Einblicke in diese dunkle Gewalt, die Hölle, ja, in die zerstörte Seele des Kongos: aus Ton geformte Babys, die wieder weggeworfen werden, ein Stacheldrahtzaun, durch den sich die sechs Männer hindurchwinden, eine Meerjungfrau auf einem Holzkasten. Passend zur wirren, bildgewaltigen Atmosphäre – verstimmter Gitarrensound. Auf großen Leinwänden werden verstörende Tierschlachtungen gezeigt, die so grausam sind, so blutig, dass man erschrickt und eigentlich nur wegsehen kann, einige schauen dennoch hin. Etwas Anderes kann man auch nicht tun. Der Mensch als Tier, das sich nicht gegen seine gierigen, rohen Unterdrücker wehren kann, ihnen hilflos ausgeliefert ist, von ihnen ausgebeutet und auf brutalste Weise ermordet wird. Es ist nur all zu zynisch, dass das Fleischgeschäft mit den Tieren auch die Armut in Afrika fördert. Und obwohl er konnte und kann, hat sich der Mensch gegen Herz und Verstand entschieden und das System der Ausbeute des Menschen durch den Menschen vorangetrieben. Nach Hannah Arendt müsste der Mensch gerade durch seine Vernunft auch den hemmungslosen Mord an Tieren verhindern. Arendt ist hier so ironisch passend, weil sie – sonst gegen den Rassismus – einen so eurozentrischen Blick auf den „schwarzen Kontinent“ wirft, der ihr als nicht zugehörig zur Welt erscheint. Dabei ist gerade ihr Tier-Argument wie geschaffen, um, auch hier in der Performance, die (Post-)Kolonialisten wieder aufs Wesentliche zu besinnen.

Von dieser Geschichte der Ausbeutung befreien können sich die sechs jungen Männer auf der Bühne nicht. Auch wenn sie sich ihrer Klamotten entledigen, dann mal in roten Strumpfhosen auftreten, mal in Smokings. Es ist ja doch wieder nur der Blick des Europäers, für den der Afrikaner nichts mehr ist als ein Stück Fleisch, ein Körper, der zu Afromusik tanzt. Die Geschichte und Politik, egal, ob Republik oder Demokratie, hat nie etwas geändert, sie pflanzt sich unaufhaltsam fort, die Menschen sind infiltriert. Das ist schmerzhaft, denn auch hier, auf dieser Kehrseite, wird es nicht besser, der Kapitalismus frisst sich schleichend durch alles und jeden hindurch. Als ob ein Teil der Menschheit fortwährend auf Kosten anderer leben kann, ohne dass der moralische Verschleiß irgendwann Konsequenzen haben könnte.

Dröhnende Wut, Sprache, schneller als der Tod

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In „le Socle des Vertiges“ bleibt der einzige Widerstand die Sprache. Eine bitterbös-sarkastische, wütende, temporeiche Gewalt-Kaskade folgt auf die nächste, fragmentiert, kryptisch. Oft obszön, vulgär und derb, dann wieder intellektuell, poetisch und schön. Bis sie sich zitternd erschöpft, nach knapp zwei Stunden. Faszinierend und fesselnd, aber nicht befreiend oder dekolonisiert. Niangouna fällt es schwer, Ruhe und Frieden reinzubringen, wo keiner ist. Was man sich nach einer Atempause aber wirklich wünscht, ist diese Utopie, die Dieudonné Niangouna verweigert, John Lennon’s „Imagine“. Von einem, der so oft ein Che Guevara T-Shirt trägt, will man dann doch das Unmögliche. Wenn, wie die deutschen Zeitungen oft resigniert schreiben, diese Hoffnung nicht in Aussicht gestellt werden kann, es keine Revolution in Afrika geben kann, dann fragt man sich schon: warum zur Hölle denn nicht?!

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