SPIELART 2019

„Meinungsfreiheit ist, was Demokratie ausmacht“

Schriftliches Interview: Chris Schinke | Bearbeitung: Julia Weigl
Video: Kristina Kilian & Julia Weigl

Die Gewöhnliche Robinie wurde immer wieder als Symbol für Ideologien verwendet, so auch in den letzten Jahren. In HUNGARIAN ACACIA gehen die ungarischen Theatermacher Kristóf Kelemen und Bence György Pálinkás der Frage nach, wie ein einfacher Baum Gegenstand aufgeheizter politischer Debatten werden konnte. Chris Schinke und Julia Weigl sprachen mit Kristóf Keleman über die Produktion, Migration, Bäume und darüber, was HUNGARIAN ACACIA über die aktuelle politische Situation in Ungarn oder gar ganz Europa aussagt.

Herr Keleman, Ihr aktuelles Projekt, das Sie beim Spielart präsentieren, ist zum Teil Doku-Theater, zum Teil Satire und ein Stück weit auch Aktivismus. Um was geht es darin?

Wir nennen die Form postfaktisches Doku-Theater. Dokumentation basiert primär auf Fakten. Doch wenn wir uns Fakten anschauen, können auch diese immer wieder anders eingesetzt und interpretiert werden – zum Beispiel gerade in der Politik. Deshalb vermischen wir in unserem Stück Fakten und Fiktion. Im Zentrum geht es allerdings um einen Baum, der als Symbol dient: die Hungarian Acacia, zu Deutsch die Gewöhnliche Robinie.

Warum haben Sie sich für dieses Symbol entschieden?

Ungarn halten diesen Baum für den ungarischsten aller Bäume. Doch eigentlich stammt er ursprünglich aus den USA und ist vor mehreren Jahren erst in unser Land gekommen. Wie kann also eine Pflanze oder ein Tier zu einem Symbol für ein ganzes Land werden oder gar zu einer politischen Debatte führen? All diese Fragen haben mich sehr beschäftigt. Unsere Regierung hat zum Beispiel vor vier Jahren diesen Baum für eine Anti-Brüssel-Kampagne instrumentalisiert…

Könnte man also sagen, die Gewöhnliche Robinie ist eigentlich ein Einwanderer?

Genau, und die Regierung sagt, es ist unser Baum, ein ungarischer Baum. Schon da erkennen wir, dass die Politik Fakten auslegt, wie sie möchte: Die Gewöhnliche Robinie ist unser ungarischer Stolz, aber andere Einwanderer möchten wir nicht haben. Mit diesen politischen Aussagen spielen wir in unserer Produktion: Was passiert, wenn wir dieses Statement neu interpretieren und sagen: Wenn dieser Baum nun ungarisch ist, kann dann nicht jeder Mensch, der in Ungarn seine Wurzeln schlägt, auch ein Ungar werden?

Warum gab es eine so große Debatte um diesen Baum? Warum wurde er zu einem Symbol, das sowohl von Rechten, aber auch von Linken instrumentalisiert wird?

Für uns Ungarn – und da spreche ich nicht von Politikern – ist die Gewöhnliche Robinie ein Teil unseres Lebens. Sie wächst in fast all unseren Gärten. Sie umgibt uns überall. Zu einem politischen Thema wurde sie erst 2014 durch eine EU-Verordnung und nun wird sie von allen für ihre Zwecke genutzt.

Das wäre meine nächste Frage gewesen: Welche Rolle spielt die EU bei dieser Debatte?

Die EU wollte festlegen, welche Pflanzen und Tiere in Europa gefährlich sind. Deshalb haben sie die Liste der invasiven fremden Arten zusammengestellt. Kurioserweise war die Gewöhnliche Robinie nicht auf dieser Liste – und trotzdem wurde von der Regierung Angst geschürt und sie als Symbol missbraucht. Das zeigt die Absurdität dieser Geschichte.

In Ihrem Stück zeigen Sie die Absurditäten dieser Debatten und werden selbst ein Teil davon. Wie sieht dieser Aktivismus aus?

Wir haben uns eine fiktionale Bewegung ausgedacht, die auf dieser ganzen Geschichte basiert. Das Symbol dieser Bewegung ist die Gewöhnliche Robinie, die wir für unterschiedliche politische Aussagen und Aktionen einsetzen und immer wieder neu interpretieren. Wir nehmen zum Beispiel konservative, nationalistische Statements und legen diese neu aus. Das wollten wir aber nicht kontextlos stehen lassen, sondern historische und politische Kontexte schaffen, etwa durch Reden, Musik, Gedichte und Orte.

Populistische Regimes nutzen heute Fake News, um die Öffentlichkeit zu manipulieren beziehungsweise ihre eigenen Fehler zu vertuschen. Ist das nicht problematisch, diese Mechanismen für die eigene Kunst zu nutzen?

Wir waren uns dieser Problematik natürlich stets bewusst. Uns war es wichtig zu zeigen, wie Mythen entstehen und was diese Mechanismen dazu beitragen. Humor hat bei unserer Herangehensweise eine zentrale Rolle gespielt, die spielerische Naivität von Kindern war dabei ein Ausgangspunkt für uns. Witze und Humor sind eine wichtige Strategie, um mit ernsten Themen umzugehen.

Es geht allerdings nicht nur darum, die aktuelle politische Lage in Ungarn abzubilden, sondern auch politisch aktiv zu werden. Endet dieser Aktivismus mit dem Stück oder folgen dann weitere Initiativen?

Wir wollen keine richtige Bewegung starten. Uns geht es darum, das ungarische Leben zu kontextualisieren. Jede Performance, jeder Art von Kunst gibt Antworten auf unsere Gesellschaft. Natürlich ist HUNGARIAN ACACIA ein politisches Stück, wenn wir uns das im Kontext der ungarischen Theatertradition anschauen. Unsere Aussagen sind sehr direkt und offen. Das ist für Ungarn sehr ungewöhnlich, denn vor allem während des sozialistischen Regimes war das schlichtweg nicht möglich. Eine Strategie waren und sind auch heute doppeldeutige, vage Inszenierungen: Man nehme zum Beispiel Shakespeares RICHARD III und jeder würde sofort denken: Klar, es geht um Viktor Orbán! Obwohl nie konkret von ihm die Rede ist. Genau diese Doppeldeutigkeit wollten wir vermeiden.

Lassen Sie uns kurz über die politische Situation in Ungarn sprechen. Können Sie da überhaupt frei darüber reden?

Natürlich gibt es Geschichten von Menschen, die Probleme bekommen haben, als sie Kritik an der Regierung übten. Aber ich halte daran fest, dass wir in einer Demokratie leben, in der wir unsere Meinung frei äußern können. Kritiker sind keine gefährlichen Menschen, sondern Meinungsfreiheit ist, was Demokratie ausmacht. Ungarn hat seine Wurzeln im Sozialismus und das merken wir heute wieder, denn auch unsere aktuelle Politik nähert sich zunehmend den sozialistischen Traditionen an.

Was meinen Sie damit?

Wenn wir uns zum Beispiel die Medien anschauen, die zum Großteil verstaatlicht sind. Fernsehen ist enorm wichtig in Ungarn. Für Menschen auf dem Land ist das häufig die einzige Nachrichtenquelle. Nehmen wir das Beispiel Migration und Flüchtlinge. Auf dem Land spielen diese Themen keine große Rolle für die Realität der Menschen, im Fernsehen werden sie zur Propaganda, um Angst zu schüren. Mich überrascht das wirklich immer wieder, wie propagandistisch das ungarische Fernsehen ist. Natürlich lebe auch ich in einer eigenen Blase in Budapest und in meinem Künstlerumfeld. Da sind Vergleiche schwer, aber wir versuchen, unsere Theaterarbeiten auch in ländlichen Regionen zu zeigen.

Spiegelt HUNGARIAN ACACIA auch eine europäische Perspektive wieder oder konkreter, werden darin nicht Themen angesprochen, die aktuell in ganz Europa virulent sind?

Natürlich! Populistische Politik findet man gerade in ganz Europa. Unser Baum ist dafür lediglich ein passendes Symbol. Im Grunde geht es vor allem um die zentralen Fragen: Was sind tatsächliche Fakten und was ist Fiktion?

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