SPIELART 2015

Marionettentheater

Die Unschuld wirkt immer erst dann verlockend, wenn man sie nicht mehr hat; ein Traum in einem Traum, ebenso schnell vorbei und verloren. Astrit Ismails INNOCENT kreist um Mechaniken des Kleidens und Entkleidens von Körpern, schweift dabei ins Spirituelle und träumt vom Ende der Unschuld.

Wer träumt hier von wem?

Ich betrete einen dunklen Raum, hier und da durchkreuzen ihn sich bewegende Lichtkegel von Stirn-Taschenlampen. Sie geben gerade so viel Licht, dass ich mich in der Menge der Körper orientieren kann, die zusammen mit den Performern langsam durcheinander wogt, wie in einer finsteren Schneekugel. Vier Performer, vier Sprachen erfüllen den Raum, sprechen davon, dass alle Dinge für sich stehen, dass es keine Vergleichspunkte gebe, die entkörperten Stimmen ecken nicht aneinander an, sondern wiederholen sich gegenseitig. Alles wirkt sehr zeremoniell, Gefühle wie im Mutterleib, der adamtische Leibeszustand. Im Anfang war das Wort.

Dann geht plötzlich das Licht an. Und oh Gott, was ist das denn? Ein männlicher Performer trägt hochhackige Stiefel, eine Art Höschen aus Leder mit einem Reißverschluss, nacktes Fleisch quillt überall raus, bei einer weiblichen Performerin unter dem Trenchcoat – Kleidungsstücke, die man anzieht, um sie auszuziehen, sich darin zu Markte zu tragen. Sie bedecken diese Körper nicht, sondern machen sie noch nackter als nackt. Das biologische Geschlecht? Nur noch ein blöder Witz. Dazu groteske Nonsens-Vorträge und „Do you want to fuck me?“ Gefühle der Abscheu und des Mitleids begleiten den drastischen Kulissenwechsel in die Realität sozialer Beziehungen und Abhängigkeiten, von denen die Leiber gezeichnet sind. Der Sündenfall des Körpers ist offenbar seine Sichtbarkeit.

Dieser zweite, ungleich längere, der eigentliche Teil des Abends führt uns vor, wie spirituelle Selbstentmündigung sich in Aktion vollzieht. Die Performer singen, künsteln vor sich hin, mit der Derbheit gealterter Transvestiten, so sehen sie ja auch aus, die Herren. Hier und da wird mal ein Plakat vollgekritzelt, eine Stange Sellerie zerknabbert und zerteilt auf dem Boden liegen gelassen. Die einzige Dame, Antonia Steffens, verhökert unterdessen Postkarten mit Zeichnungen von Astrit Ismaili, der als ihr „Boss“ ebenfalls als Performer irgendwo herumlungert und das Geld einstreicht, das sie den Zuschauern aus den Rippen leiert, in einer Mischung aus Aggression und Masochismus feilschend, sich entblößend und demütigend. Schließlich robbt sie nur noch, mit dem Po auf dem Boden, auf ihren Ellenbogen, den Kopf zurückgeworfen in die Höhe, wie von einem Dämon besessen, wie Linda Blair in „Der Exorzist“; die junge Frau ist fast nackt.

Überhaupt fallen allmählich die Hüllen, die ohnehin keine waren. Darin legt INNOCENT die Hoffnung auf  Erlösung. „Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ So schreibt es Kleist in seiner Schrift „Über das Marionettentheater“. Das Paradies gibt es, wenn wir nur einmal die profane Welt zur Gänze umrunden. Und tatsächlich: Diese Leiber erscheinen im grellen Licht ihrer gegenseitigen sozialen Abhängigkeiten wie von unsichtbaren Marionetten-Fäden gezogen. Aber sie kehren gegen Ende der Performance in einen verwirrenden Gnadenstand zurück, der sich nicht so recht angekündigt hat.

Astrit Ismaili und Antonia Steffens sitzen sich gegenüber auf dem Boden, splitternackt und mit seitlich überschlagenen Beinen, und betrachten sich stumm. Alles wirkt plötzlich ruhig und gefasst; das grelle, marktschreierische Treiben im Raum erlischt, als wäre es nie dagewesen. Was dann passiert, bricht das Erwartbare auf subtile Weise. Es hinterlässt die Frage, ob das nun das Ende vom Ende der Unschuld ist. Oder nur ein Traum im Traum im Traum?

Sehr weitläufige Themenkomplexe werden hier konfiguriert: Die Bestimmung des Menschen als selbstständige Substanz oder soziales Relais, seine Käuflichkeit und das Geschlechtsverhältnis zum eigenen Körper und denen der Anderen. Astrit Ismaili will viel und schafft davon vieles. INNOCENT funktioniert, wenn auch dieses Gemengelage von Themen, kaum überraschend, ziemlich schwammig und wackelig durcheinander geht; aber eben nie so, dass es stört.

Nach der Vorstellung hüpfe ich in den Shuttle-Bus zu CASSIDY und HIATUS, drinnen unterhält sich eine Gruppe über die Performance, die wir gerade gesehen haben. „Raum und Körper“, „Gender-Identität“, „Kunst und Markt, Abhängigkeit und Spiritualität“ seien die Themen von INNOCENT gewesen, lesen sie im Programmheft. Was bleibt da noch offen, was will man da mehr? „Einmal hin, alles drin.“ Der Bus kämpft sich die Straße entlang, während wir drinnen lachen. Endspurt.

 

INNOCENT ist heute nochmal um 16 Uhr zu sehen, im i-camp am Kolumbusplatz. Außerdem nimmt Astrit Ismaili am NEW WORKS-Talk morgen um 11 Uhr im Ampere teil.

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