SPIELART 2017

Von den NSU-Morden zu „Kasperl unter den Wilden“. Spurensuche mit Suli Kurban im Stadtmuseum

WHISPERING BODIES ist der erste Teil des zweiteiligen Projektes AUDIOREFLEX MÜNCHEN-SAO PAULO. Die vom Goethe-Institut Sao Paulo unterstützte Kooperation zwischen dem Münchner Stadtmuseum und dem Museu da Imigracao do Estado de Sao Paulo beschäftigt sich mit dem Thema Migration und Stadt. Sechs internationale Künstlerinnen und Künstler – Choreograf*innen, Regisseur*innen, Filmemacher*innen, Kurator*innen – haben das für sie ungewohnte Format des Audio-Guide oder Hörstücks genutzt, um auf neue Weise Migrations-Geschichten im Museumsraum erlebbar zu machen. Die ersten drei Ergebnisse werden in München präsentiert. Der zweite Teil mit den Arbeiten der anderen drei Künstler hat im Frühjahr 2018 in Brasilien Premiere.

Zur Premiere der Audio-Guides am 29.10. fand ein Künstler*innen-Gespräch im Münchner Stadtmuseum statt. Wir haben uns kurz davor mit der Münchner Filmemacherin Suli Kurban zum Gespräch getroffen.

***

Whispering Bodies ist ein spezielles und außergewöhnliches Projekt. Drei Künstler haben jeweils einen Audio-Guide erarbeitet, der durch jeweils andere Teile der Sammlung des Münchner Stadtmuseums führt. Diese Hör-Spaziergänge stellen zugleich eine Intervention in den bestehenden Museumsraum dar. Du bist eigentlich Filmemacherin und arbeitest sonst nicht im Museumskontext. Wie ist es zu diesem Projekt und Deiner Mitwirkung bei SPIELART gekommen?

Suli Kurban: Ich wurde Anfang 2016 für dieses Projekt angefragt. Ich war gerade zu Dreharbeiten in Kurdistan, als mich die Nachricht vom SPIELART Festival erreichte. Wir haben dann geskypt und ich habe die ersten Infos zum Projekt erhalten. Für das Spielart-Festival war das ja auch was komplett Neues. Normalerweise werden ja bei SPIELART Performances gezeigt und keine Audio-Guides produziert. Aber ich war gleich interessiert, weil ich früher sehr viel Hörfunk gemacht habe. Insofern habe ich mit dem Geschichten erzählen ohne Bilder begonnen und erst später bin ich dann zum Film gekommen. Daher habe ich nicht lange überlegen müssen und gleich zugesagt.

Interessant fand ich auch das Konzept des Projekts. Wir sind insgesamt sechs Künstler, drei aus Deutschland und drei aus Brasilien. Die brasilianischen Künstler kommen dabei alle aus dem Theater-, Tanz- und Performance-Bereich und die beiden anderen deutschen Künstler auch. Ich bin die einzige, die Filme macht. Und so war ich sehr neugierig, wie sich unsere Zusammenarbeit gestalten wird. Es hieß dann, dass ich mit zwei brasilianischen Künstlern in München zusammenarbeiten werde, nämlich mit dem Choreographen und Tänzer Alejandro Ahmed und mit dem Theaterregisseur und -autor José Fernando Peixoto de Azevedo.

Im April 2017 begann die Produktionszeit hier in München mit einem gemeinsamen Workshop, wo wir alle sechs das erste Mal zusammen kamen. Wir waren uns ja alle fremd und so wurden wir für mehrere Tage hier im Münchner Stadtmuseum sozusagen erstmal aufeinander losgelassen.

Kanntest Du das Stadtmuseum bereits?

Suli Kurban: Ehrlich gesagt war ich früher nicht oft im Stadtmuseum. Mit der Schule haben wir eher das Deutsche Museum oder die Pinakotheken besucht. Das Stadtmuseum kannte ich höchstens von den Fotoausstellungen. Die Dauerausstellungen haben mich nie interessiert. Und so war das zunächst sehr aufregend, mir die Dauerausstellung „Typisch München!“ anzuschauen und es war zugleich auch ein Schock, weil ich mich so sehr fehl am Platz gefühlt habe. Und den beiden anderen Künstlern aus Brasilien ging es genauso. Wir haben uns gefragt, was sollen wir hier denn überhaupt machen? Und wie soll er denn aussehen, dieser Audio-Guide? Zur Inspiration haben wir uns dann zunächst die regulären Audio-Guides des Museums angehört. Die waren sehr sachlich-informativ und haben die einzelnen Exponate beschrieben. Aber wir wollten ja was Künstlerisches machen und unsere jeweiligen Skills aus Performance, Film und Theater einbringen. Und wir wollten was Einzigartiges aus unseren jeweiligen Perspektiven erzählen.

Am Ende der Woche hatten wir dann etwas Klarheit. Wir hatten uns Ausstellungsbereiche und Themenfelder aus dem Museum ausgesucht und wir haben uns Fragen gestellt. Zuerst waren die Fragen. Obwohl ich seit mehr als achtzehn Jahren in München lebe und mich als Münchnerin bezeichne, habe ich im Museum kaum Orte entdecken können, die irgendwas mit mir zu tun haben oder zu denen ich eine Verbindung aufbauen konnte. Tatsächlich waren die einzigen Ausstellungsbereiche oder Objekte, die etwas mit meiner Geschichte zu tun haben oder zu denen ich einen Bezug gespürt habe, die Vitrinen zu den beiden Münchner NSU-Opfern Habil Kiliç und Theodoros Boulgarides. Das war für mich schon auch erschreckend, dass ich keine positiven Anknüpfungspunkte in der Ausstellung entdecken konnte, nichts, wo ich mich zugehörig fühlen konnte, sondern nur diese schrecklichen Morde.

Ich habe dann die Puppentheater-Ausstellung entdeckt und es entstand die Idee, eine Art Thriller zu erzählen. Was ich mit dem Audio-Guide machen kann, ist ja letztlich nur, die Blicke der Besucher zu lenken, so dass sie durch mich auf etwas Neues aufmerksam werden, das sie so zuvor noch nicht gesehen hatten. Deswegen trägt mein Audio-Guide auch den Titel „What I See“.

Hattest Du Dich schon vor dieser Arbeit mit den NSU-Morden beschäftigt? Und kannst Du was zur Ausstellungssituation hier im Haus sagen?

Suli Kurban: Wenn man die „Typisch München!“-Ausstellung im ersten Stock betritt, ist es erstmal sehr bunt da. Und die Vitrinen zu den NSU-Morden in der Ecke gleich neben dem Eingang gehen fast unter. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es zu Diskussionen geführt hat, dieses Thema in der Ausstellung überhaupt unterzubringen. Und ich bin froh, dass es einen Platz dort gefunden hat, auch wenn man natürlich über die Art der Präsentation streiten kann.

Die Regisseurin Christine Umpfenbach und die Münchner Soziologin Tunay Önder, die am Residenztheater das dokumentarische Theaterprojekt „Urteile“ über die Opfer des NSU in München auf die Bühne gebracht haben, haben mich bei der Umsetzung meines Projekts beraten. Und auch die NSU-Protokolle, die die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht hat, habe ich natürlich zur Vorbereitung gelesen.

Wie kam die Zusammenarbeit mit den brasilianischen Künstlern und dem Museum in Sao Paulo zustande? 

Suli Kurban: Die Zusammenarbeit mit Brasilien entwickelte sich aus dem übergeordneten Thema der Migration. Der Projektpartner in Brasilien ist das Museu da Imigração do Estado de São Paulo und ein anderer wichtiger Kooperationspartner in dem Zusammenhang ist das dortige Goethe-Institut. Und in München sind die Partner eben das Stadtmuseum und das SPIELART Festival.  Aber São Paulo und das städtische Museum dort sind natürlich ganz anders migrantisch geprägt als München und das Münchner Stadtmuseum. Wobei wir hier am Museum von Natalie Bayer unterstützt wurden, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin das Projekt „Migration bewegt die Stadt“ betreut.

Die Gruppe, die in Brasilien arbeiten und ihre Projekte dort Anfang März 2018 im Rahmen des Festivals MITsp präsentieren wird, setzt sich zusammen aus Ariel Ephraim Ashbel, einem in Berlin lebenden israelischen Regisseur, aus der in Wien lebenden deutschen Regisseurin  Claudia Bosse und aus Rita Natálio, einer Choreografin, die zwar in São Paulo lebt, aber ursprünglich aus Portugal stammt. Alle drei verkörpern also Migrationserfahrungen. Und bei unserer Gruppe ist es so, dass ich Münchnerin bin, aber aus China stamme, Alejandro Ahmed stammt aus Uruguay, aber lebt in Brasilien und José Fernando Peixoto de Azevedo ist der einzige der Gruppe, der in dem Land lebt, in dem er geboren wurde. Wir wurden also an zwei verschiedene Orte gesetzt, um dort an den Museen und mit den jeweiligen Objekten etwas über das Thema Migration zu erzählen.

Wie habt Ihr Euch dem Thema und dem Format angenähert? Es gab zur Vorbereitung einen Workshop habe ich gehört?

Suli Kurban: Der erste Workshop fand hier in München am Stadtmuseum statt und ich bin ganz froh darüber, weil wir uns hier langsamer und Schritt für Schritt an das Thema Migration heran arbeiten konnten, als es wahrscheinlich in Brasilien möglich gewesen wäre. Hier hatten wir auch die Möglichkeit, diverse Inputs zu erfahren und haben etwa Keynotes von Bernd Kasparek (bordermonitoring.eu) gehört oder Matthias Weinzierl im Bellevue di Monaco besucht, um das Wohn- und Kulturprojekt kennenzulernen. Für uns wurde ein umfangreiches Workshop-Programm zusammengestellt, so dass wir das Thema Migration aus den unterschiedlichsten Perspektiven und mit ganz verschiedenen Facetten kennenlernen konnten. Dazu gehörte natürlich auch die städtische Migrationsgeschichte Münchens mit den Gastarbeitern und Gleis 11 am Hauptbahnhof, wo ab 1960 eben die „ausländischen Arbeitskräfte“ in München angekommen und registriert worden sind.

Mit diesem Input versehen, haben wir uns dann im Stadtmuseum auf die Suche gemacht nach den Migrationsgeschichten, die wir hier erzählen wollen. Interessanterweise hat jeder von uns dabei einen ganz anderen Ansatz gewählt. Alejandro Ahmed beispielsweise ist Choreograf und lässt die Besucher mit seinem Hörspaziergang „Choreografische Anleitung zum Nichtvergessen“ Migrationsgeschichte ganz und gar körperlich erleben. Und José Fernando Peixoto de Azevedo hat sich intensiv mit dem Ausstellungsbereich „Nationalsozialismus in München“ auseinander gesetzt und bringt das in seinem Hörstück „Trauminhalt. Manifest.“ mit dem Thema Kolonialismus in Verbindung und regt dadurch sehr zum Nachdenken an. Und ich verknüpfe in meinem Stück „What I See?“ eben die NSU-Vitrinen mit dem Ausstellungsbereich zum Puppentheater, weil mich sehr fasziniert hat, wie die Puppen präsentiert werden, wie sie die Besucher sozusagen anschauen und wie sie wortwörtlich ausgestellt werden. Und da sehe ich eine Parallele zu den Migranten, weil die sich auch immer anschauen lassen müssen und sich erklären müssen, woher sie kommen, was sie machen, wieso sie so gut Deutsch sprechen usw.

Durch Deinen Audio-Guide ist mir, als ich durch die Puppenausstellung gegangen bin, das erste Mal aufgefallen, wie viele „fremde“ Puppen in den Vitrinen zu finden sind – Schwarze, Asiaten, Orientalen, Juden – und alle sehr stereotyp, ja rassistisch dargestellt. Dein Hörstück macht an zwei besonderen Vitrinen Halt. Eine Vitrine trägt den Titel „Kasperl unter den Wilden“ und zeigt Exponate von 1859, die andere zeigt Köpfe schwarzer und asiatischer Frauen und wird im „Schreckenskabinett“ ausgestellt. Welche Verbindung siehst Du zwischen den Puppen und den NSU-Morden? 

Mich hat sehr fasziniert, was mir der Leiter der Puppentheater-Abteilung erzählt hat: dass der Kasperl nämlich zunächst eine ganz derbe und vulgäre Figur war und erst im Lauf der Zeit sozusagen integriert oder sozialisiert wurde und sich so allmählich gewandelt, ja total transformiert hat. Erst als er sich an die Regeln angepasst hatte, wurde er vom Publikum akzeptiert und zum guten Kasperl. Das hat mich an das Thema Migration erinnert. Denn erst wenn du quasi einen Teil deiner Identität aufgibst und dich anpasst, wirst du akzeptiert. Das ist auch ein Aspekt an den NSU-Morden. Denn die Opfer waren ja bestens integriert und Teil der Gesellschaft, aber sie sahen eben anders und fremd aus. Und das hat sie zu Opfern des NSU werden lassen.

Wie sah die Zusammenarbeit mit dem Münchner Stadtmuseum konkret aus?

Suli Kurban: Wir haben ganz tolle Hilfe durch die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums Natalie Bayer erhalten, die uns von Anfang an sehr unterstützt hat. Auch das Verhältnis zu allen anderen Abteilungen und Mitarbeitern des Museums war durchgängig positiv. Wir konnten uns mit allen Fragen und Anliegen an die Museumsmitarbeiter wenden und uns wurde geholfen, soweit das eben im Rahmen der Institution möglich ist. Vor allem für die beiden Kollegen aus Brasilien war die Zusammenarbeit mit dem Museum sehr wichtig, da sie ja nur eine Woche für den Workshop in München waren und sich dann aus der Distanz daran erinnern mussten, wo genau die Exponate stehen und wie die Ausstellungsbereiche aufgebaut sind. Und da war der enge Austausch mit dem Museum schon sehr wichtig, sonst hätte das gar nicht funktionieren können. Auch beim Sound Design und was die Tontechnik oder Tonmischung angeht haben wir professionelle Unterstützung durch das Museum erhalten.

Ich glaube, dass es für beide Seiten, also auch für das Museum, eine bereichernde Erfahrung der Zusammenarbeit war. Denn wir haben immer wieder kritische Fragen gestellt und gute Diskussionen mit den Museumsleuten geführt und ich denke, es war für alle Beteiligten ein sehr interessanter und konstruktiver Austausch.

 

Werden Eure Audio-Guides und Arbeiten weiterhin im Museum genutzt werden? Oder hast Du sonst einen Einfluss Eurer Interventionen auf den regulären Museumsbetrieb feststellen können?

Suli Kurban: Es gibt bisher zwei reguläre Audio-Guides des Museums. Der eine ist sehr informativ und hat ein wenig Atmo drunter gelegt, aber richtet sich eben an erwachsene Besucher der Ausstellung. Und der andere ist für die Kinder und der ist sehr lustig gemacht. Insofern wäre es natürlich schön, wenn sich das Museum durch unsere Hörstücke inspirieren ließe oder sie weiter mit ins Programm aufnähme.

Natalie Bayer, die Mitarbeiterin des Museums, die unser Projekt mitbetreut hat, hat mir erzählt, dass sie durch Alejandro Ahmeds Arbeit dazu inspiriert wurde, die Installation des Ausstellungsbereichs im Erdgeschoss zu überdenken und zu verändern. Und das ist natürlich toll, wenn durch unsere Audio-Guides auch die Kuratoren des Museums Dinge plötzlich anders wahrnehmen und das sogar Einfluss auf die Ausstellungsgestaltung nimmt.

***

Die Audio-Guides können während des SPIELART Festivals bis zum 11. November während der Öffnungszeiten des Münchner Stadtmuseums jederzeit kostenlos ausgeliehen werden. Die Guides werden auf Deutsch und auf Englisch angeboten.

WHISPERING BODIES // SULI KURBAN, ALEJANDRO AHMED, JOSÉ FERNANDO DE AZEVEDO // AUDIO-GUIDES // AUDIOREFLEX MÜNCHEN-SAO PAULO, TEIL1 // 29.10. BIS 11.11., DI-SO 10.00-18.00 // MÜNCHNER STADTMUSEUM

Suli Kurban nimmt bei CROSSING OCEANS am 4.11. um 15:00 Uhr an der Diskussionrunde zu „BETWEEN IDENTITY POLITICS AND THE DISCUSSION OF A »DEFINING CULTURE«“ teil.

 

Related Posts

Schreibe einen Kommentar