SPIELART 2015

Rabihs Bruder – eine persönliche Geschichte in 15 oder 20 Videos

Yasser Mroué ist der jüngere Bruder des Künstlers und Theatermachers Rabih Mroué. Mit 17 Jahren wurde er von einem Scharfschützen getroffen und schwer verletzt. Der Kopfschuss verändert Yassers Leben nachhaltig. Zurück auf Los! Zurück in den Kindergarten, um das Elementarste wiederzulernen. Mit selbstgedrehten Videos arbeitet er sich zurück in sein Leben. In den Kammerspielen zeigt er sie uns.

Eine Frage wie ein Schlag in den Magen: „Was findest Du besser? Durch einen Querschläger unabsichtlich angeschossen zu werden oder gezielt von einem Scharfschützen getroffen zu werden?“ Die Frage stellt der zufällig verwundete Habib seinem Freund Yasser, dessen Kopf von der Kugel eines Snipers durchschlagen wurde, als er die Straße überquerte. Eine Frage, die man erst mal sacken lassen muss. Eine Überlegung, die aus einer fernen Realität stammt, während man sich hierzulande mit der Entscheidungsfindung zwischen laktosefreier, fettreduzierter oder doch Sojamilch quält.

Es gibt immer ein Vorher und ein Nachher, führt Yasser an einer anderen Stelle seines Monologs aus. Ein vor und nach Christi Geburt, vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vor und nach dem Holocaust, vor und nach der Nakba, vor und nach dem Berliner Mauerfall, vor und nach 9/11. Zeitenwenden, die einschneidende Ereignisse im Leben vieler Menschen fixieren. Und es gibt die persönlichen Momente, die die eigene Biographie in ein klar abgegrenztes Vorher und Nachher unterscheiden. In Yasser Mroués Fall ist das der Moment, als er von einem Scharfschützen getroffen wird und dessen Kugel ihm einen großen Teil seiner linken Gehirnhälfte raubt. In einer Videorekonstruktion sehen wir das Hochhaus in Beirut, in dessen oberster Etage sich der Schütze verschanzt hatte, wir sehen das Mauerloch, hinter dem der Scharfschütze gelegen haben muss. Die Kamera schwenkt und zeigt die umliegenden Gebäude. Sie zoomt in die in großer Distanz, aber in gerader Sichtlinie liegende Straße, die Yasser damals mit seinem Freund überquerte. Es ist der 17. Februar 1987 und der siebzehnjährige Yasser war auf dem Weg zur Wohnung seiner Großeltern, da er soeben im Radio gehört hatte, dass auf seinen Großvater, den marxistischen Philosophen und Intellektuellen Hussein Mroué, ein Attentat verübt worden war.

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Das Persönliche ist das Politische. Diese Erkenntnis prägt die repräsentationstheoretisch und medienkritisch fundierten Arbeiten von Rabih Mroué. Am Ende des Abends hören wir die Aufnahme eines Dialogs der Brüder, wobei die Frage erörtert wird, ob die eigene Geschichte es überhaupt wert sei, erzählt zu werden. Ob es nicht zu alltäglich, zu banal sei und ob es nicht viel interessantere Geschichten zu berichten gäbe. Doch das ist der Punkt: dass in der individuellen Biographie die Geschichte einer ganzen Nation ihren Widerhall findet. Mroués Arbeiten drehen sich immer wieder um den libanesischen Bürgerkrieg und dessen Nachwirkungen. In Arbeiten der letzten Jahre, wie z.B. „Shooting Images“ oder „Pixelated Revolution“, die u.a. auch auf der dOCUMENTA (13) oder der HAU-Weltausstellung im Tempelhofer Park in Berlin zu sehen waren, standen Scharfschützen im Mittelpunkt.

Der ruhige, konzentrierte Theaterabend in der Kammer3 beginnt mit Überlegungen zur Repräsentation auf dem Theater: zur Differenz zwischen Darsteller und Rolle, zwischen Realität und Fiktion. Eine entscheidende Facette spielt dabei die medizinische Diagnose, die Yasser Mroué nach seiner Kriegsverletzung erhalten hat. Infolge des Kopfschusses leidet er unter einer Aphasie, einer Sprach- und Wahrnehmungsstörung, die dazu führt, dass er zwar reale, materielle Gegenstände wiedererkennen und benennen kann, nicht aber deren Abbildungen auf Fotos oder in Videos. Zur Selbsttherapie beginnt er damit Videos zu drehen. Zwischen 1990 und 2010 entstehen so über hundert kurze Filme.

Auf der Bühne sitzt Yasser, dessen rechter Arm noch immer vollständig gelähmt ist, nun hinter einem Tischchen auf der Bühne und bestückt, ähnlich wie ein VJ oder DJ, den DVD-Player und den Kassettenspieler mit immer neuen Scheiben und Bändern. Die Kassetten und DVDs sind ordentlich übereinander gereiht und mit buchhalterischer Präzision sortiert Yasser die jeweils abgespielten Aufnahmen auf einen neuen Stapel, so dass man das Fortschreiten der Zeit an der jeweiligen Stapelhöhe ablesen kann. Mit leisem Humor und unüberhörbarem Eigensinn, der ihm bereits mit vier Jahren im Kindergarten bescheinigt worden war, erzählt er davon, dass er eigentlich all seine Videos hätte zeigen wollen, dass aber sein Bruder meinte, er solle nur eine Auswahl von 15 oder 20 Filmen präsentieren. Und da sein Bruder ja der Regisseur des Abends sei, habe er sich dessen Entscheidung beugen müssen.

Die Selbstironie prägt viele der biographischen Episoden dieses Abends. Da sind die Büsten von Lenin, Tschaikowsky und Majakowski, die mit der Familie „wohnten“. Alle in der Familie waren Mitglieder der Kommunistischen Partei. Doch als der Großvater ermordet wurde, endete auch die politische Parteinahme der Enkel und Lenin verließ die Familie. Musik ist eine frühe Leidenschaft des jungen Yasser. Nach dem Kopfschuss spielt er Klavier für fünf Finger, da sein rechter Arm gelähmt bleibt, und dokumentiert sein Spiel im Video. Majakowski wird zum treuesten Begleiter in der langen Phase nach der Verletzung und zum Mentor für das eigene Reifen zum Dichter. Die Poesie wird auch in der Rezitation deutlich, sei es bei arabischen Gedichtzeilen oder bei der Neuinterpretation von Shakespeares „To be or not to be“. Auch der Titel des Abends, „Riding on a Cloud“ geht auf ein Gedicht Yasser Mroués zurück.

Musikalisch endet der leise, berührende Abend. Für das Schlussbild kommt Rabih Mroué zu seinem Bruder auf die Bühne. Er übernimmt die rechte Hand, sein linker Arm ruht auf der Schulter des jüngeren Bruders, und gemeinsam spielen sie, während Yasser mit links die Akkorde greift, auf der Gitarre.

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